Ein ehemaliger Boeing-737-Pilot mit langer Karriere in Südkorea spricht über mögliche Szenarien der Flugzeugkatastrophe in Muan.
Viele Fragen sind offen, wie es zur schlimmsten Flugzeugkatastrophe seit Jahren kommen konnte. Auf dem südkoreanischen Flughafen Muan starben am Sonntag 179 Menschen, als eine Boeing 737-800 der Billigfluggesellschaft Jeju Air vermutlich nach einem Vogelschlag bei einer missglückten Landung explodierte. Dazu äussert sich der 67-jährige Peter-Christian Möhrke gegenüber der NZZ. Er ist ein pensionierter deutscher Flugkapitän, der mehr 10 000 Flugstunden auf der Boeing 737 absolviert hat und ein Jahrzehnt bei einer koreanischen Fluggesellschaft geflogen ist.
Herr Möhrke, haben Sie in Ihrer Karriere Vogelschläge erlebt – und wie geht man da als Pilot vor?
Ja, solche Fälle hatte ich mehrfach, zum Glück ist es immer gut ausgegangen, mir sind dabei nicht einmal Triebwerke ausgefallen. Nach dem Start von Göteborg bin ich in einen Schwarm Gänse geraten, die wurden von unseren eingeschalteten Scheinwerfern angezogen. Man schaut dann als Erstes, ob die Motoren etwas abbekommen haben und welche Parameter die Instrumente noch anzeigen. In Gefahr sind dann ja nicht nur die Antriebe, sondern auch die Instrumente. Zum Beispiel können Pitot-Rohre abgerissen werden, die die Geschwindigkeit messen. Sensoren, die die Fluglage anzeigen, können unbrauchbar werden.
Wie ist dann das weitere Vorgehen?
Man sieht, was man danach noch zur Verfügung hat, bespricht sich kurz im Cockpit, trifft eine Entscheidung und beginnt dann, sie umzusetzen. Von Göteborg sind wir wie geplant an unseren Zielort Köln/Bonn geflogen, weil die Triebwerke weiter normal liefen. Am Boden, nach der sicheren Landung, haben dann Techniker festgestellt, dass wir mindestens drei Einschläge von Vögeln hatten. In einem anderen Fall sind Vögel bei mir durchs Triebwerk gegangen, es roch dann verbrannt an Bord, aber wir konnten ebenfalls weiterfliegen.
Vogelschläge müssen also keine gravierenden Folgen haben?
So ist es. Das Flugzeug bleibt steuerbar, denn die Hydraulikleitungen liegen nicht direkt unter der Oberfläche. Selbst wenn etwa vorn an der Flügelkante durch den Aufprall von Vögeln Beulen entstehen, bricht die Leitung nicht, und sie wird auch nicht undicht.
Sie sind selbst auf dem Flughafen Muan in Südkorea schon mit der Boeing 737 gelandet. Ist dort Vogelschlag eine besondere Gefahr?
Ja, dort an der Küste ist immer eine erhöhte Migration von Vögeln zu erwarten. Zu Jahreszeiten mit Zugvögeln gibt es dann eben Vögel nicht nur in Bodennähe, sondern auch in grösserer Flughöhe. Damit muss man dort und anderswo immer rechnen. Spezielle Vogelvergrämer sorgen auf solchen Flughäfen dafür, die Anflugzonen von Vögeln möglichst freizuhalten. Etwa durch Störgeräusche, Warnschüsse oder höheres Gras, in dem die Vögel versteckte Feinde vermuten müssen.
Auf einem Video vom Anflug des Unglücksflugzeugs ist zu sehen und zu hören, dass es im rechten Triebwerk eine kleine Verpuffung gibt. Deutet das auf einen Vogelschlag hin?
Ja, es könnte gut sein, dass in dem Moment ein oder mehrere Vögel ins Triebwerk geraten sind. Dann haben möglicherweise die Schaufelräder der Kompressorstufe nicht mehr richtig gedreht, die Verdichterstufe des Triebwerks wurde gestört, das nennt man «Compressor Stall». Das heisst aber nicht, dass das Triebwerk danach ausfiel. Allerdings lief es vermutlich nicht mehr mit voller Leistung.
Es bleibt ein anderes Rätsel: Gibt es eine Abhängigkeit zwischen Vogelschlag und nicht ausgefahrenem Fahrwerk?
Da gibt es eigentlich keinen Zusammenhang. Wenn das Fahrwerk ausgefahren ist und dann Vögel dort eine Hydraulikleitung treffen würden, liesse es sich möglicherweise nicht mehr einfahren. Aber hier war es offensichtlich gar nicht ausgefahren. Auch wenn noch ein Triebwerk zumindest reduzierte Leistung geliefert hat, wäre Hydraulikdruck erzeugt worden, damit wären Fahrwerk und Steuerung funktionsfähig gewesen. Vor dem Vogelschlag war das Flugzeug im Endanflug und hatte die Räder sicher draussen, was man in dem Video von der Verpuffung allerdings nicht sieht, vielleicht stammt das vom zweiten Anflugversuch. Hier sind die genauen Abläufe bisher unklar. Anders als sonst gibt es die üblichen Radardaten vom Flugverlauf bei diesem zweiten Anflugversuch nicht. Es kann gut sein, dass durch den Vogelschlag die für deren Übertragung nötige ADS-B-Antenne aussen am Flugzeug unbrauchbar wurde.
Auf jeden Fall standen die Piloten in dieser kritischen Phase sehr unter Druck. Welche Abläufe sind für Sie vorstellbar?
Wenn ich mich kurz vor der Landung zum Durchstarten, einem sogenannten «Go Around», entschliesse, dann ist das Einfahren des Fahrwerks ein normales Verfahren. Das sind festgelegte Abläufe, in der 737 setzt man zunächst die Klappen auf 15 und baut wieder Geschwindigkeit auf, bei angezeigter positiver Steigrate zieht man dann das Fahrwerk ein und leitet kurz darauf wieder das Landeverfahren ein.
Nach der Bauchlandung des Flugzeugs ist im Video die scheinbar ungebremste Geschwindigkeit auffällig. Gab es keinerlei Bremswirkung?
Ich erkenne, dass beim rechten Triebwerk die Schubumkehr zumindest teilweise aktiviert war. Aber das allein reichte eben nicht aus für eine nennenswerte Bremswirkung, auch die Reibung des Rumpfs auf der Piste nicht. Vor dem Aufsetzen sieht man, dass die Klappen viel zu wenig ausgefahren waren, um die Maschine schon in der Luft abzubremsen wie üblich. Ob tatsächlich die Hydraulik unbrauchbar war, ist unklar. Vielleicht haben die Piloten auch den Mechanismus nicht ausgelöst.
Zwischen dem Mayday-Ruf der Piloten und der Landung mit vorangegangenem Durchstartmanöver vergingen etwa drei Minuten. War das genug Zeit für die Piloten, all die nötigen Abläufe abzuarbeiten?
Drei Minuten sind genügend Zeit, um eine Notlandung vorzubereiten, das geht relativ schnell. Es wird auch immer wieder im Simulator trainiert, das Flugzeug innerhalb kürzester Zeit wieder in Landekonfiguration zu bringen. Man kann das Fahrwerk auch manuell ausfahren, das ist in 20 Sekunden abgewickelt. Mit ausgefahrenem Fahrwerk hätte man selbst ohne Hydraulik viel wirkungsvoller bremsen können.
Letztlich wurde dem Flug zum Verhängnis, dass nur 300 Meter hinter dem Bahnende eine massive Betonwand stand. Gibt es das häufiger, und ist das nicht gefährlich?
Ein Abstand von 300 Metern nach Bahnende ist das international vorgeschriebene erlaubte Minimum, aber zum Glück sind derart nahe, so massive Hindernisse die Ausnahme. Normalerweise stehen hier allenfalls Antennen, Sender und Beleuchtung auf Metallgerüsten. Wenn da ein Flugzeug durchgeht, wird das Gerüst zerstört und die Maschine abgebremst, aber die Bewegungsenergie wird nicht abrupt in Verformungsenergie umgesetzt. Das Flugzeug rutscht dann hinter der Antenne weiter und kommt irgendwann verlangsamt zum Stehen. Ich kann mir vorstellen, dass der Untersuchungsbericht feststellen wird, dass das so wie in Muan nicht hätte zertifiziert werden dürfen. Aber Unfälle sind immer das Resultat der Verkettung von unglücklichen Umständen. Neben der Betonmauer am Ende der Bahn waren hier die anderen wichtigen Faktoren Vogelschlag, das eingefahrene Fahrwerk, aber auch das erst sehr späte Aufsetzen auf der Bahn, das zum Überschiessen am Ende beigetragen hat.
Sie haben zu Beginn der 2000er Jahre ein Jahrzehnt lang in Korea gearbeitet, um zu helfen, die damals anfällige Flugsicherheit des Landes zu verbessern. Wie ist Ihre Einschätzung heute?
Es hat sich sehr viel verbessert, man hat viele Verfahren geschaffen, um die Sicherheitsmarge anzuheben. Vor allem hat man das vorher sehr hierarchische Arbeitskonzept im Cockpit zugunsten einer besseren Koordination und Abstimmung zwischen den Piloten geändert. Da haben auch die grossen koreanischen Airlines viel Geld investiert, um das Sicherheitsniveau zu verbessern, und das weist die Bilanz bisher auch klar aus.
Nur das Problem mit den Zugvögeln ist noch nicht gelöst …
Vogelschlag ist ein bekanntes Problem und eine latente Gefahr in der Luftfahrt. Dass daraus eine solche Katastrophe resultiert, ist allerdings die absolute Ausnahme.