Freitag, September 20

In der Politik werden die Einsparungen des Medienkonzerns mit Sorge beobachtet.

In Winterthur gibt es einen eigentümlichen Brauch: Jedes Jahr lädt die Zeitung «Der Landbote» die gesamte städtische Prominenz ins Casinotheater zum Spargelessen ein. Unter den Gästen war in den letzten Jahren auch Pietro Supino. Er ist der Verleger von Tamedia – jener Firma, die den «Landboten» im Jahr 2013 übernommen hat.

Immer wieder sprach Supino beim Spargelessen über die Zukunft des traditionsreichen «Landboten». Er versprach: Für den Verlag stehe die Region stets an erster Stelle (2015). Er versicherte: Die Zeitung sei in Winterthur immer noch zentral (2018).

Er beteuerte: «Guter Journalismus ist wichtig für die demokratische Gesellschaft» (2019).

Doch dann schlug Pietro Supino plötzlich neue Töne an, wie der Landbote selbst protokollierte: Beim Spargelessen im vergangenen Mai sprach der Verleger davon, dass er das Zeitungsgeschäft «verwandeln» wolle.

Was Supino damit meinte, ist diese Woche klargeworden: 55 Journalistinnen und Journalisten werden bei Tamedia entlassen, zwei der drei Druckereien geschlossen. Dort sollen 200 Vollzeitstellen abgebaut werden.

Journalistische Auswirkungen hat der Kahlschlag vor allem bei den Regionalmedien. «Der Landbote», vor 188 Jahren in Winterthur gegründet, die «Zürichsee-Zeitung», vor 179 Jahren in Stäfa gegründet, und der «Zürcher Unterländer», vor 174 Jahren in Bülach gegründet, werden zu Aussenbüros des Zürcher «Tages-Anzeigers» degradiert.

Die Kopfzeilen der gedruckten Ausgaben bleiben zwar vorerst erhalten, und alle drei Zeitungstitel sollen über eine kleine eigene Redaktion verfügen. Sie haben aber keine eigene Redaktionsleitung mehr, sondern arbeiten auf Geheiss der Chefs in Zürich. Digital erscheinen die Inhalte nur noch auf der Plattform des «Tages-Anzeigers».

Ein einziges Team soll künftig über die Aufmachung und Gewichtung in den verbleibenden deutsch- und französischsprachigen Tageszeitungen der TX Group entscheiden. Die Kulturbeilage «Züritipp» wird per Ende Jahr ganz eingestellt.

Welche Folgen dies für betroffene Regionen wie Winterthur haben wird, darüber will Stadtpräsident Michael Künzle (Die Mitte) nicht mutmassen. Künzle steht seit 2012 an der Spitze der sechstgrössten Schweizer Stadt. Gegenüber der NZZ sagt er, der Stadtrat habe die Sparmassnahmen bei TX Group «mit Sorge» zur Kenntnis genommen.

Es sei zu befürchten, dass es die Redaktion des «Landboten» in Winterthur bald nicht mehr geben werde: «Das wäre ein Verlust für den Lokaljournalismus und ganz besonders für Winterthur.» «Der Landbote» sei nämlich «mehr als nur eine Tageszeitung». Er sei ein wesentlicher Bestandteil der Identität dieser Stadt.

Der Stadtrat von Winterthur will sich nun mit Pietro Supino treffen, um mit ihm über die Zukunft der journalistischen Arbeit in Winterthur zu sprechen.

Eine «grosse Gefahr für die Qualität»

Ein anderer bekannter Winterthurer wählt weniger diplomatische Worte. Aus journalistischer Sicht sei der Entscheid von Tamedia «völlig rücksichtslos», so kommentiert Karl Lüönd die Ereignisse.

Der Publizist beobachtet den Schweizer Journalismus seit den siebziger Jahren genau und kennt die hiesige Presselandschaft so gut wie sonst nur wenige. Er sass in der Chefredaktion des «Blicks», war Chefredaktor und zeitweise Verleger der längst wieder eingestampften Gratiszeitung «Züri-Woche». Zudem ist er Autor zahlreicher Bücher zur Schweizer Medienlandschaft.

Lüönd sagt: «Es ist eine grosse Gefahr für die Qualität der Berichterstattung, wenn der Einheitsbrei noch grösser wird.»

Besonders für Winterthur habe die unabhängige Berichterstattung des «Landboten» stets eine grosse Bedeutung gehabt. Die Winterthurer hätten zu den frühsten Verfechtern der direkten Demokratie gehört und sich im 19. Jahrhundert entschieden gegen die liberalen Eliten in der Stadt Zürich positioniert: «Diese Rivalität hält bis heute an. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Winterthurer Freude haben, wenn ihre Zeitung nun von Zürich aus abgefüllt wird.»

Wirtschaftlich betrachtet seien die Kürzungen bei den Regionalzeitungen aber absehbar gewesen, sagt Lüönd. Die Erlöse aus den Anzeigeverkäufen seien in den letzten zwanzig Jahren bei manchen Titeln um bis zu 80 Prozent zurückgegangen. Hinzu komme, dass Tamedia die rentabelsten Teile des Zeitungsgeschäfts – Stellenanzeigen und Wohnungsinserate – längst in Onlineportale ausgegliedert habe und sich weigere, damit den Journalismus zu finanzieren.

Lüönd sagt: «Die Filetstücke sind längst weg. Der Rest kommt jetzt vor die Hunde.» Dass die Branche den gewaltigen Umsatzeinbruch irgendwie bewältigen müsse, sei logisch. «Die gedruckte Presse hat ähnliche Probleme, wie sie die Uhren- oder die Textilindustrie gehabt haben.» Die Fixkosten für gedruckte Zeitungen seien enorm hoch, so dass hohe Personalkosten nicht auch noch zu stemmen seien.

Trotzdem will Karl Lüönd nicht in die allgemeine Tamedia-Schelte einstimmen. Alle Medienhäuser hätten mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen: «Einer musste der Erste sein und etwas unternehmen. Pietro Supino ist vorangegangen, und der macht nun einmal keine halben Sachen.»

«Berichterstattung wurde magerer»

Von den Kürzungen bei den Tamedia-Regionalzeitungen ist nicht nur Winterthur betroffen. Auch rund um den Zürichsee und im Unterland dürften die Leserinnen und Leser die Einsparungen der TX Group zu spüren bekommen.

In den betroffenen Gemeinden fallen die Reaktionen auf die Schrumpfkur unterschiedlich aus.

Der Gemeindepräsident von Zollikon, Sascha Ullmann, sagt, er stelle eine «Verarmung von lokalen Informationen» fest. Die «Zürichsee-Zeitung» habe in den letzten Jahren stark an Bedeutung verloren. Nach der Auflösung der Redaktion in Stäfa sei die Zeitung immer dünner geworden, die Berichterstattung aus der Gemeinde magerer, die Journalisten seien nicht mehr an jede Gemeindeversammlung gekommen.

Ullmann sagt: «Um zu erfahren, was in Zollikon läuft, braucht es die ‹Zürichsee-Zeitung› schon lange nicht mehr.»

Dafür gebe es den wöchentlich erscheinenden, privat geführten «Zolliker Zumiker Boten». Der ist auch das amtliche Publikationsorgan der beiden Gemeinden. Er gehe davon aus, dass der «Bote» in Zukunft an Bedeutung gewinnen werde, sagt Ullmann. «Ich überlege mir jedenfalls, das Abo der ‹Zürichsee-Zeitung› zu kündigen und stattdessen den ‹Tages-Anzeiger› zu abonnieren. Der Inhalt ist ja fast derselbe.»

Zollikon und Zumikon sind nicht die einzigen Gemeinden am See mit eigenen Lokalblättern. In Uetikon erscheint alle zwei Wochen der «Blickpunkt», am anderen Seeufer wird einmal monatlich der «Wädenswiler Anzeiger» gedruckt, der auch eine Onlineplattform mit lokalen News betreibt. Doch die «Zürichsee-Zeitung» sei wichtig, sagt der Wädenswiler Stadtpräsident und Mitte-Nationalrat Philipp Kutter. Er war selbst viele Jahre als Journalist tätig, zuerst bei der «Zürichsee-Zeitung», dann als Chefredaktor des «Thalwiler Anzeigers».

Auch in Stäfa denkt man über eigenes Blatt nach

Kutter sagt: «Für uns ist es zentral, dass die ‹Zürichsee-Zeitung› weiterhin vor Ort präsent ist.» Sonst verlören die Journalistinnen und Journalisten den Kontakt zu den Menschen und den Zugang zu den Themen, die die Region bewegten. Kutter sagt, er nehme den schleichenden Abbau in der Redaktion und der Berichterstattung mit Besorgnis zur Kenntnis. Zwar seien die Qualität und der Umfang nach wie vor gut. «Aber beides darf nicht unter ein gewisses Niveau fallen.»

Tamedia-intern ist von sieben gekürzten Stellen bei den Regionalzeitungen und fünf in der Zürcher Zentrale die Rede, wie mehrere voneinander unabhängige Quellen der NZZ berichten. Simon Bärtschi, Leiter Publizistik und Produkt bei Tamedia, sagte öffentlich nur, man wolle an den Standorten in der Region festhalten.

Die Frage ist: wie lange noch?

Kutter hofft, dass die «Zürichsee-Zeitung» eine Zukunft hat. Ihr Wegfall wäre aus seiner Sicht ein grosser Verlust. Als Gemeinde eine eigene Publikation aufzubauen, kommt für ihn nicht infrage. «Wenn, muss das durch eine private und unabhängige Initiative geschehen.»

Auch Christian Haltner, Gemeindepräsident von Stäfa, sagt: «Die ‹Zürichsee-Zeitung› ist wichtig für die Politik und das Vereinsleben. Wir haben eine langjährige Verbundenheit.» Die Gemeinde habe stets einen konstruktiven Austausch gepflegt mit den Redaktorinnen und Redaktoren.

Und man fühle sich bis jetzt gut repräsentiert: «Die Journalisten kommen an die Gemeindeversammlung und berichten über das Dorfgeschehen.» Haltner sagt aber auch: «Viele Vereine bedauern es, dass heute weniger über Veranstaltungen berichtet wird als früher.»

Nun habe der Gemeinderat viele offene Fragen, die man auch der Zeitung selbst stellen wolle: Wie wird in Zukunft über Stäfa berichtet? Wie funktioniert der Kontakt zu den Journalisten? Und ist die «Zürichsee-Zeitung» weiterhin als amtliches Publikationsorgan geeignet? Für Haltner ist klar: Wenn die Bedeutung der Regionalzeitung verschwinde, müsse man sich Gedanken über eine eigene Dorfzeitung machen, wie sie es etwa für Zollikon, Meilen und Zumikon gibt.

Höhepunkt einer fast hundertjährigen Tendenz

Schon 2020 hat Tamedia den Redaktionen ein strenges Sparprogramm auferlegt. Das ambitionierte Ziel damals: binnen dreier Jahre 70 Millionen Franken einzusparen. Bereits 2014 waren insgesamt fünfzehn Vollzeitstellen gestrichen worden.

Mit dem nun angekündigten faktischen Ende der regionalen Titel erreicht eine Tendenz ihren Höhepunkt, die seit dem zwanzigsten Jahrhundert besteht: Grössere Zeitungen kaufen kleinere, um zunächst die Auflagen zu vergrössern – und die kleineren Titel dann sukzessive einzustellen.

Dieser Trend hat insofern eine gewisse Ironie, als auch die nun ausgehöhlten Regionaltitel einst auf dieselbe Art gross wurden.

Der wirtschaftliche Aufstieg der «Zürichsee-Zeitung» zum Beispiel beruhte massgeblich auf dieser Strategie. Indem sie sich 1969 den «Allgemeinen Anzeiger vom Zürichsee» und 1971 die Richterswiler «Grenzpost am Zürichsee» einverleibte, konnte die «Zürichsee-Zeitung» das Gebiet ihrer Berichterstattung von Stäfa aus auf das linke Seeufer ausdehnen. Die Auflage stieg von 20 000 Exemplaren auf 28 000 Exemplare.

1997 kaufte die «Zürichsee-Zeitung» weitere lokale Titel dazu. Das hob die Auflage auf über 50 000 Stück. 2010 ging die «Zürichsee-Zeitung» im Verband der Regionalzeitungen von Tamedia auf.

Der Rest ist Geschichte.

Leben von den Todesanzeigen

Wird sich die Entwicklung nun in ihr Gegenteil verkehren und neuen journalistischen Projekten Vorschub leisten? «Eher nein», sagt der Publizist Karl Lüönd. Er sei zwar noch immer davon überzeugt, dass Lokaljournalismus finanzierbar sei. Eine Bedingung für Rentabilität sei aber, dass die Verlage sich nicht allein auf ihre gedruckten Ausgaben versteiften und mit den Gemeinden Abmachungen träfen, dass sie als amtliche Publikationsorgane fungieren könnten. Erfolgsbeispiele sind für Lüönd Zeitungen wie die «Andelfinger Zeitung», die «Surseer Woche» oder das «Urner Wochenblatt».

«Manche dieser Verlage decken einen Teil ihrer Fixkosten mit den Todesanzeigen. Aber das macht nichts», sagt er. «Die Hauptsache ist, dass sie leben und eine ausgeschlafene Redaktion finanzieren können.»

Trotzdem glaubt Lüönd nicht, dass demnächst viele neue Zeitungen oder Onlineprodukte auf den Markt kommen werden, um die entstandene Lücke zu schliessen.

Denn damit sich Journalismus wirklich wieder rentiere, müssten sich die Leserinnen und Leser erst wieder daran gewöhnen, dass verlässliche Informationen Geld kosteten und dieses auch wert seien.

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