Verantwortung ist ein Schlüsselbegriff in Zygmunt Baumans Denken. Doch über seine Arbeit als Geheimdienstoffizier im kommunistischen Polen sprach er nie. In seinen Lebenserinnerungen windet er sich.
«Ein Jude begeht einen Selbstmordversuch. Gerettet von polnischen Pfadfindern», meldete die Lokalzeitung. Noch vor der Weltwirtschaftskrise 1929 ging der Vater von Zygmunt Bauman mit seinem Geschäftslokal bankrott. In der Hoffnung, ein Auskommen für seine Familie zu finden, reiste er nach Paris. Nachdem er auch dort gescheitert war, kehrte er nach Poznan zurück. Desillusioniert und hoffnungslos, sprang er von der «wunderschönen historischen Brücke, die über die Warthe führt», ins eiskalte Wasser.
Das schreibt der polnische Soziologe Zygmunt Bauman in einem der autobiografischen Texte, die nun, sieben Jahre nach seinem Tod, unter dem Titel «Fragmente meines Lebens» erschienen sind. Sein geistreicher, in praktischen Dingen aber talentfreier Vater habe sich nie über sein Unglück als Kaufmann und Buchhalter beklagt, sondern sich zurückgezogen und sein Schicksal still hingenommen. «Das Schweigen half ihm, seine Würde zu bewahren.»
Gespannt war man auf das Erscheinen der «Fragmente meines Lebens» vor allem deshalb, weil man erfahren wollte, ob und wie Zygmunt Bauman Stellung nehmen würde zu den Enthüllungen, die die polnische Zeitschrift «Ozon» und der Historiker Bogdan Musial nach einem brisanten Aktenfund 2006 machten. Sie zeigten den gefeierten Analytiker des postmodernen Lebens von einer anderen Seite.
Keine Zweifel
Es ging dabei um seine ranghohe Aktivität im polnischen Geheimdienst von 1945 bis 1953: Zuerst war Bauman unter dem Decknamen Semjon als Agent des Militärischen Informationsdienstes registriert, schliesslich als Major beim KBW, dem Inneren Sicherheitskorps des Ministeriums für öffentliche Sicherheit. Dieses hatte die Aufgabe, den antikommunistischen Widerstand im Land zu bekämpfen.
Wie reagiert der Autor von Bestsellern wie «Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust» oder «Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit» auf die Vorwürfe?
Nun: Wie schon sein jahrzehntelanges Schweigen über das umstrittene Engagement und sein schmallippiges Bedauern nach dessen Aufdeckung sind auch seine späten Memoiren enttäuschend: wenig reflektiert und weitgehend frei von Selbstkritik. Beim Bestreben, den Sozialismus in Polen aufzubauen, habe er, so Baumans knappe Begründung, Fehlentwicklungen und Missstände als Kinderkrankheiten angesehen. Prinzipielle Zweifel am neuen Regime unter stalinistischem Diktat waren ihm fremd.
Blinder Gehorsam?
«Ich nahm immer mehr menschliches Leid, ungerechtfertigte Anschuldigungen und böse Handlungen wahr», schreibt Bauman dazu, «aber sie bildeten kein Ganzes für mich. Ich hielt sie nicht für beabsichtigt, noch weniger für einen Bestandteil der ‹Ordnung›, die in Polen eingeführt wurde. Und ganz sicher kam es mir nicht in den Sinn, dass sie in einem kausalen Zusammenhang mit dem ‹Aufbau des Sozialismus› stehen oder irgendwie anderweitig untrennbar damit verbunden sein könnten.»
Nicht das System selbst sei schuld gewesen, sondern sein mangelhaftes Funktionieren, meinte Bauman, der nach seiner antisemitisch motivierten Entlassung 1953 weiterhin überzeugter Kommunist blieb. Erst nach seinem Austritt aus der Kommunistischen Partei 1967 kritisierte er die politische Unterdrückung Polens durch die Sowjetunion.
Im Unterschied zu anderen Intellektuellen wie etwa Leszek Kolakowski, der in der negativen Entwicklung nicht nur Fehler, sondern «systemimmanente Prämissen» erkannte, sei er, schreibt Bauman, langsam gereift. Diese Begründung will nicht so recht ins Bild eines Majors im Dienst der Roten Armee passen, der für die ideologische Zurichtung der Rekruten zuständig war. Lag es vielleicht weniger an der verlangsamten Reifung als am linientreuen, blinden Gehorsam?
Befremdliche Erklärungen
Wieso schwieg Zygmunt Bauman über seine Spionagetätigkeit, zu der er sich als Offizier verpflichtet fühlte, auch dann noch, als er – nach Warschau und Tel Aviv – schon längst im britischen Leeds lehrte? Er sagt dazu: «Meine Verpflichtung zur Mitarbeit war Teil meiner Autobiografie, über die ich nicht sprach; ich schwieg schlicht deshalb, weil meine Verpflichtung ein Geheimhaltungsversprechen beinhaltete. Es war mir nicht gestattet, dieses Versprechen zu brechen. Und nicht ich war derjenige, der es schliesslich brach.» Diese Erklärung ist genauso befremdlich wie die Tatsache, dass Bauman seine eigene Akte nie einsehen wollte.
Auf der vorletzten Seite der «Fragmente meines Lebens» hüllt Zygmunt Bauman sein schlechtes Gewissen in eine vage, etwas gewundene Sprache. In Anlehnung an Joseph Brodsky bezeichnet er einen freien Menschen als jemanden, «der die Verantwortung für sein Handeln und für die Konsequenzen dieses Handels übernimmt».
Befreiung erfolge nur, schreibt Bauman, «wenn wir die Verantwortung übernehmen für diese Verantwortung, die wir so oder so tragen und von der wir uns nicht freimachen können; die wir allenfalls vergessen oder verharmlosen können, indem wir dafür sorgen, dass unsere Erinnerung an diese Verantwortung unser Handeln nicht leitet und somit die Versklavung der Freiheit vorzieht».
Das klingt wie ein sich mühsam abgerungenes Eingeständnis eigener Schuld – aus der Feder eines Soziologen, der sonst mit moralischen Urteilen über den angeblichen Verfallszustand der kapitalistischen Gesellschaften nie zurückhaltend war. Und während er in seinen Büchern, etwa über den Holocaust, «den erst die rational bestimmte Welt der modernen Zivilisation möglich machte», die Kultur der Erinnerung pflegt, stellt er nun seltsame Fragen: «Ist es überhaupt notwendig zu reden? Ist das Vergessen nicht schöpferischer als die Erinnerung?» Bauman wird oft als Denker der Ambivalenz bezeichnet. Das ist zu viel der Ambivalenz.
Zygmunt Bauman: Fragmente meines Lebens. Herausgegeben von Izabela Wagner. Aus dem Englischen von Ursula Kömen. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 302 S., Fr. 44.90.