Dienstag, Oktober 22

Elf Wochen nach der milliardenschweren AHV-Panne folgt der Rücktritt: Stéphane Rossini verlässt das Bundesamt für Sozialversicherungen. Er hat seine Chefin Elisabeth Baume-Schneider in eine schwierige Lage gebracht.

Mitten im Sommerloch hat die Nachricht eingeschlagen wie eine Bombe: Der Bund hat sich bei der AHV verrechnet – und dies nicht nur ein wenig, sondern im zehnstelligen Bereich. Anfang August musste Stéphane Rossini, der Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), dem verblüfften Publikum an einer kurzfristig anberaumten Medienkonferenz erklären, dass es dem grössten Sozialwerk der Schweiz weniger schlecht geht als angenommen.

Die Prognosefehler betrugen bis zu 4 Milliarden Franken im Jahr. Das politische und mediale Echo war vernichtend. Die Panne hat zudem eine Abstimmungsbeschwerde gegen die jüngste AHV-Reform nach sich gezogen, mit der unter anderem das Rentenalter der Frauen auf 65 Jahre erhöht worden ist («AHV 21»). Sie ist beim Bundesgericht hängig.

Nun, keine drei Monate später, folgt Rossinis Rücktritt. Wie mehrere gut informierte Quellen bestätigen, wird sein Abgang am Mittwoch Thema in der Bundesratssitzung sein. Gemäss bisherigen Informationen ist vorgesehen, die Sache in der offiziellen Kommunikation als freiwilligen Rücktritt darzustellen.

Rossini soll den Chefposten auch nicht sofort räumen, sondern bis im Sommer 2025 im Amt bleiben, bevor er als dannzumal 62-Jähriger aus dem Bundesdienst scheidet. Die zuständige Innenministerin, SP-Bundesrätin Baume-Schneider, will die Stelle im ersten Halbjahr 2025 neu besetzt haben.

Eine «rote Kapelle»

Rossini ist eine typische Schöpfung sozialdemokratischer Personalpolitik. Nachdem der frühere Langzeitnationalrat die Wahl in die Walliser Kantonsregierung verpasst hatte, wurde er vom SP-Bundesrat Alain Berset zunächst bei Swissmedic und der AHV-Kommission «parkiert». Dann, Ende 2019, ernannte er ihn zum Chef des BSV. Das Amt steht wegen der hohen Dichte an sozialdemokratisch gesinnten Führungskräften traditionell im Rufe einer «roten Kapelle».

Rossini hätte 2010 ebenfalls Bundesrat werden wollen, musste aber Berset den Vortritt lassen. Danach blieb er loyal. Er unterstützte Berset bei dessen (vergeblichem) Versuch, die AHV und die Pensionskassen gleichzeitig zu reformieren. Schliesslich ist ihnen mit der «AHV 21» im Herbst 2022 eine Reform gelungen, die nun aber auf dem Rechtsweg angefochten wird.

Die Chefin zu spät informiert

Über die wahren Gründe des Abgangs darf und wird spekuliert werden. Die zeitliche Nähe zum Rechnungsfehler ist nicht zu übersehen. Zudem hat Baume-Schneider bereits nach dem Bekanntwerden der Panne unzimperlich reagiert und eine externe Administrativuntersuchung veranlasst. Ob diese intern neue Erkenntnisse hervorgebracht hat, die zu dem Abgang beigetragen haben, ist nicht bekannt. Im August hiess es, die Resultate sollten bis Ende Jahr vorliegen.

Mutmasslich liegt das Hauptproblem aber nicht einmal beim Rechnungsfehler an sich. Gravierend war weniger, dass sich Rossini und seine Fachleute verrechneten, sondern vielmehr, wie sie damit umgingen. Vor allem: wie lange sie zuwarteten, bis sie ihre Chefin Baume-Schneider ins Bild setzten.

Rossini hatte es nicht gerade eilig mit der internen Kommunikation. Im BSV hat man erstmals Mitte Mai festgestellt, dass bei der Schätzung der AHV-Ausgaben etwas nicht zu stimmen scheint. Baume-Schneider wurde jedoch erst zwei Monate später, Mitte Juli, informiert. Dass die Bundesrätin dies im August höchstselbst öffentlich machte, lässt tief blicken. Sie ging sogar noch weiter und wollte auch personelle Konsequenzen nicht ausschliessen.

Das lange Schweigen des AHV-Chefs brachte Baume-Schneider gegenüber ihren Bundesratskollegen in eine unangenehme Lage. An der Sitzung vom 22. Mai hatte sie ihnen ein wichtiges AHV-Geschäft vorgelegt, das auf den falschen Zahlen basierte – dies zu einem Zeitpunkt, zu dem man im BSV bereits ahnte, dass etwas nicht stimmt.

Es ging damals um die Finanzierung der 13. AHV-Rente, die aufgrund der aktualisierten Prognosen etwas weniger dringlich ist als angenommen. Doch davon wusste ausserhalb des BSV niemand etwas, der Bundesrat schickte die Vorlage in die Vernehmlassung – und musste später konsterniert zur Kenntnis nehmen, dass er auf falscher Zahlenbasis entschieden hatte. Dass der Vorfall Baume-Schneiders Position im Gremium nicht gestärkt hat, liegt auf der Hand.

Kein «goldener Fallschirm»

Dass Chefs von Bundesämtern unter Druck abtreten (müssen), kommt nicht oft vor. Für Aufsehen sorgte zuletzt der Fall von Nicoletta della Valle, die das Bundesamt für Polizei im Januar 2025 verlässt. Bei ihr gab vor allem zu reden, dass das Justizdepartement von Bundesrat Beat Jans den Abgang als freiwillig darstellen wollte, della Valle aber gleichzeitig eine Abgangsentschädigung von einem Jahreslohn bescherte. Zumindest dies ist im Fall des BSV-Chefs Rossini nicht zu erwarten. Wenn sein Abgang als freiwilliger Rücktritt verkündet wird, sollte ein «goldener Fallschirm» nicht infrage kommen.

Jenseits der personellen Ebene stellt sich die Frage, welche Spuren die Episode politisch hinterlassen wird. Nachdem der Rechnungsfehler anfänglich extrem hohe Wellen geworfen hatte, ist es jüngst ruhiger geworden. Mitte September hat der Bund neue, extern überprüfte Zahlen veröffentlicht, die zeigen, dass die finanziellen Abweichungen sogar etwas kleiner sind als ursprünglich angenommen.

Das wird die Gegner künftiger AHV-Reformen aber kaum davon abhalten, bei Bedarf weiterhin mit dem Rechnungsfehler des BSV Stimmung zu machen. Insbesondere die Linke sieht sich in ihrem notorischen Vorwurf bestätigt, der Bund betreibe bei der AHV «Schwarzmalerei». Zurzeit aber sind die parteipolitischen Fronten etwas unübersichtlich.

Streit um Finanzierung der 13. Rente

Der Bundesrat will die 13. Rente bereits ab dem Jahr 2026 mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer von 8,1 auf 8,8 Prozent (Normalsatz) finanzieren. In diesem Fall sind es eher SVP und FDP, die geneigt sein könnten, die AHV-Zahlen anzuzweifeln. Sie lehnen die Vorlage des Bundesrats ab. Anstelle einer schnellen Finanzspritze für die 13. Rente fordern sie eine umfassende Reform, welche die AHV längerfristig stabilisiert – und die auch weitere Fragen wie das Rentenalter angeht. In diesem Fall müsste man zulassen, dass die AHV ab Einführung der 13. Rente im Jahr 2026 vorübergehend Defizite schreibt.

Der Streit wird nun rasch entschieden. Im Dezember diskutiert der Ständerat über die Steuererhöhung, die der Bundesrat vorschlägt. Im März ist der Nationalrat an der Reihe. Falls beide zustimmen, haben im September 2025 Volk und Stände das letzte Wort. Das BSV wird dann bereits unter einem neuen Chef stehen – und dieser alle Hände voll zu tun haben. Auch wenn die Steuererhöhung zustande kommt, ist für das Jahr 2026 die nächste grosse AHV-Reform geplant.

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