Dienstag, Januar 7

Österreich durchlebt hektische Tage der politischen Ratlosigkeit. Nun zeigen sich die Konservativen zu Verhandlungen mit der FPÖ bereit. Deren Chef Herbert Kickl hält fast alle Trümpfe in der Hand.

Nach 36 Stunden war immerhin der politische Schockzustand in Wien vorüber. Am Freitagmorgen war die Kleinpartei Neos aus den Gesprächen über die Bildung einer Regierung aus drei Parteien ausgestiegen. Die «Zuckerl-Koalition» war jäh Geschichte. Doch die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) und die Sozialdemokraten der SPÖ erklärten am Abend, sie wollten die Verhandlungen zu zweit weiterführen.

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Am Samstagabend war auch dieses Projekt gescheitert. Karl Nehammer, ÖVP-Chef und Bundeskanzler Österreichs, erklärte seinen Rücktritt aus allen Funktionen. Am Montag will der Bundespräsident den Vorsitzenden der Freiheitlichen Partei (FPÖ), Herbert Kickl, zum Gespräch über eine neue Regierungsbildung unter dessen Führung treffen. Da dieser Prozess länger dauern dürfte, wird im Kanzleramt interimistisch ein Nachfolger für Nehammer eingesetzt.

Nehammer war Parteistratege, kein charismatischer Kanzler

Die beiden grösseren Parteien wurden völlig überrascht vom Ausstieg von Neos, obschon die Gespräche offenbar seit Wochen auf der Stelle getreten waren und sich das Klima rapide verschlechtert hatte. Die Neos-Vorsitzende Beate Meinl-Reisinger verglich die Regierungsverhandlungen mit einem Basar der politischen Tauschhändel, ohne Reformwillen und Zukunftsvision. Seither haben die ÖVP und die Sozialdemokraten diesen Eindruck kaum zerstreut. Sie wirken desorientiert und ratlos angesichts des Scherbenhaufens, gefangen in der Hoffnung, dass dieser irgendwie von selbst wieder verschwindet.

Karl Nehammers Verdienst ist immerhin, dass er aus seinem Scheitern rasch Konsequenzen zog und zurücktrat. Der ehemalige Berufsmilitär, Generalsekretär des mächtigen Arbeitnehmerbundes in der ÖVP und Innenminister agierte auf seine Weise stets gradlinig. Er war ein fähiger Parteistratege, aber kein charismatischer Politiker. Nach dem chaotischen Abtritt von Sebastian Kurz im Herbst 2021 war Nehammer als Bundeskanzler nicht die zweite, sondern nur die dritte Wahl. Das hatte Gründe: Als Redner wirkte er oft hölzern, die populistischen Gesten sahen angelernt aus.

Doch der 52-jährige Wiener hielt die heterogene Regierung mit den Grünen drei Jahre lang zusammen, durch Corona, Russlands Überfall auf die Ukraine und die Schockwellen, die dieser durch Österreichs Wirtschaft sendete. Nehammer blieb der Devise seines Vorgängers Kurz treu: Krisenbewältigung «koste es, was es wolle», mit viel staatlichem Geld. Zu oft wurde es zur Strukturerhaltung ausgegeben, eingebettet in die sozial- und klientelpolitischen Sachzwänge der Republik.

Dass Nehammers Regierung die Kosten dieses Wegs kaum hinterfragte, gehört zu ihren grössten Verfehlungen. Das Ausmass des Budgetlochs, dessentwegen Österreich nun ein EU-Defizitverfahren droht, wurde erst nach der Nationalratswahl kommuniziert. Den Triumph der Freiheitlichen Partei (FPÖ) verhinderte das nicht. Deren Vorsitzender Herbert Kickl erreichte all jene, die Abstiegsängste plagen und die Österreichs Neutralität als Äquidistanz zwischen den USA, der EU und Putin verstehen.

Vor allem aber trauen sie den Institutionen nicht. Zwar verliert das grosskoalitionäre System der Sozialpartnerschaft in Österreich seit Jahrzehnten an Legitimation. Doch die Skandale der Kurz-Regierung, die strikte Pandemiepolitik inklusive Impfpflicht und die anhaltende Rezession haben diesen Prozess stark beschleunigt. Kickl versteht es, seine Partei als glaubwürdige Alternative zum Mainstream zu positionieren, obschon er als Innenminister der Unterwanderung des Geheimdienstes durch russische Agenten Tür und Tor öffnete.

Die gescheiterte Ausgrenzung von Kickl

Anders als in Deutschland mit der AfD gibt es in Österreich aber keinen Cordon sanitaire gegen die FPÖ. Sie regiert im halben Land mit. Doch Kickl polarisiert so stark, dass nach der Wahl keine andere Parlamentspartei mit ihm reden wollte. Nehammer bezeichnete Kickl als Sicherheitsrisiko und schloss eine Kooperation mit dessen Partei frühzeitig aus – im Gegensatz zu seinen Vorgängern Sebastian Kurz und Wolfgang Schüssel, die Koalitionen eingegangen waren. Unterstützt wurde Nehammer dabei durch den Bundespräsidenten.

Alexander Van der Bellen vergab den Auftrag zur Regierungsbildung deshalb entgegen den üblichen Konventionen nicht der FPÖ als stärkster Partei, sondern der ÖVP. Sie sollte erstmals in der Geschichte mit zwei Partnern eine Koalition bilden. Diese Strategie ist nun krachend gescheitert. Dabei wirkte auch der Präsident jüngst gealtert und ideenlos. Ausser wohlklingenden Appellen lieferte er offensichtlich kaum Impulse, wie die riesigen Gräben zwischen Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen zu überbrücken wären.

Statement zum Stand der Regierungsverhandlungen

Diese verloren sich in der Steuer-, Sozial- und Wirtschaftspolitik in den Details ihrer Gegensätze. Das zeigt: Die Verhinderung einer FPÖ-Regierungsbeteiligung war kein Ersatz für eine Vision zum gemeinsamen Regieren. Die Idee der Dreierkoalition entpuppte sich letztlich als Symptom der Ratlosigkeit. Der Ratlosigkeit darüber, wie ein politisches System, das seit Jahrzehnten über Kompromisse und persönliche Beziehungen funktioniert, mit einem so kompromisslosen und misanthropischen Akteur wie Kickl umgehen soll.

Die über drei Monate geführten und so kläglich gescheiterten Gespräche bringen Kickl einer Kanzlerschaft aber deutlich näher. Die ÖVP befindet sich im Begriff, einen rapiden Kurswechsel hin zu einer Koalition mit der FPÖ vorzunehmen. Bundespräsident Van der Bellen bestätigte dies indirekt, als er am Sonntagnachmittag sagte, die Stimmen, die eine solche Zusammenarbeit ausschlössen, seien in der ÖVP «deutlich leiser» geworden. Auch sagte der Übergangs-Vorsitzende der Konservativen, der bisherige Generalsekretär Christian Stocker, man würde eine Einladung der Freiheitlichen zu Gesprächen annehmen.

Die Glaubwürdigkeit der Volkspartei würde das nicht steigern. Doch der Wirtschaftsflügel erhofft sich von einer Regierungsbeteiligung als Juniorpartner eine unternehmerfreundliche Politik, mancher Funktionär wenigstens ein Verbleiben an der Macht. Und für allfällige Neuwahlen erhoffen sich offenkundig einige in der Partei eine Rückkehr von Sebastian Kurz. Auch dies wirkt wenig zukunftsgerichtet.

Die FPÖ muss sich beweisen

Wie es mit der Regierungsbildung weitergeht, entscheidet nun der Bundespräsident. Van der Bellen hat realpolitisch kaum eine andere Wahl, als Kickl doch noch die Initiative zu übergeben. Ausser Neuwahlen sind alle Optionen gescheitert. Ob der FPÖ-Vorsitzende, wie sich das manche Strategen erhofft hatten, bei einem früheren Einbezug in die zweite Reihe getreten wäre, um einen dialogfähigeren Parteikollegen Verhandlungen für eine Koalitionsregierung führen zu lassen, ist offen. Nun wird er es aber erst recht nicht tun, sieht er sich doch in seiner Haltung bestätigt. Seine Partei sei der einzig stabile Faktor in Österreichs Innenpolitik, schrieb Kickl am Sonntagabend.

Will Kickl tatsächlich ins Kanzleramt, muss er nun jedoch zeigen, dass er Verantwortung übernehmen kann und es schafft, Österreicherinnen und Österreicher jenseits seiner überzeugten Anhänger anzusprechen. Das ist eine politische Notwendigkeit für eine Partei, die trotz Wahltriumph weniger als dreissig Prozent der Stimmen erhielt. Ob er dazu in der Lage ist und ob es innerhalb der FPÖ genug Kompetenz zum Regieren gibt, muss sich weisen. Die Partei hat sich schon mehr als einmal selbst zerlegt, sobald sie an der Macht war. So stark wie heute war ihre Position allerdings nie – und ihre Konkurrenten waren nie so schwach und ratlos.

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