Samstag, April 19

Israel hat nach einem Ultimatum von Joe Biden eingewilligt, mehr Hilfslieferungen in den Norden von Gaza zu lassen. Die Armee hat ihre Untersuchungen zu dem Angriff auf den Konvoi von World Central Kitchen abgeschlossen und gibt schwerwiegende Fehler zu.

Israel hat viel zu erklären dieser Tage – und keine Zeit zu verlieren. Seit dem tödlichen Angriff auf einen Konvoi der Hilfsorganisation World Central Kitchen (WCK) im Gazastreifen steht die Regierung unter internationalem Druck. Spät am Abend trommelte die israelische Armee am Donnerstag daher ausländische Journalisten in ihrem Hauptquartier im Zentrum von Tel Aviv zusammen. Der Grund: Die Armee hat ihre Untersuchung zur Tötung der sieben WCK-Helfer abgeschlossen – und will der Welt zeigen, wie es zu dem Angriff kommen konnte.

Die Konsequenzen sind bereits jetzt gravierend. Etwa gleichzeitig, als Armeesprecher Daniel Hagari die Journalisten zu überzeugen versuchte, dass die Tötung der Helfer das Resultat einer tragischen Verkettung von Fehlern waren, telefonierte Benjamin Netanyahu mit Joe Biden. Es war ihr erstes Telefonat seit dem Angriff auf den WCK-Konvoi. Und zum ersten Mal stellte Biden dem israelischen Ministerpräsidenten ein hartes Ultimatum: Entweder Israel handelt sofort, um Helfer besser zu schützen und mehr humanitäre Hilfe nach Gaza zu lassen, oder die USA werden ihre Haltung gegenüber Israel fundamental verändern.

Es war die stärkste Zurechtweisung Israels durch Washington seit Jahrzehnten. Und sie zeigte Wirkung: Noch in der Nacht beschloss das israelische Kriegskabinett, den israelischen Hafen von Ashdod sowie den Erez-Grenzübergang für zusätzliche Hilfsgüter zu öffnen. Israel hatte ihn nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober geschlossen. In letzter Zeit war aber der Druck der Verbündeten gewachsen, Erez zu öffnen, um die drohende Hungersnot im Norden Gazas abzuwenden.

Es brauchte jedoch den dramatischen Vorfall von Montagnacht, als eine israelische Drohne sechs internationale und einen palästinensischen Helfer tötete, damit sich der amerikanische Präsident entschloss, seine Druckmittel zu nutzen, um Israel endlich zum Einlenken zu bringen. Doch wie kam es überhaupt zu dem Angriff auf den Konvoi?

So hat sich der Angriff zugetragen

Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari ist müde und gereizt, als er spät am Abend in den Besprechungsraum tritt. Vor ihm ein Stoss Papier, ihm gegenüber drei grosse Bildschirme, auf denen die Journalisten sehen sollen, was sich in der verhängnisvollen Nacht zugetragen hat. «Das hätte nicht passieren sollen, und wir werden alles daran setzen, dass es nicht noch einmal passiert», sagt er eingangs. «Leider ist es oft vorgekommen, dass Hamas-Kämpfer die humanitäre Hilfe von Zivilisten gestohlen haben. Auch bei dieser Mission ist das vorgefallen.»

Neben Hagari sitzt der frühere Generalmajor Yoav Har-Even, der die Untersuchungskommission leitete. Er trägt keine Uniform, sondern einen dunklen Anzug. Er betont, dass er sich seit acht Jahren nicht mehr im Dienst befinde und daher unabhängig sei. Seiner Darstellung nach verliessen mehrere Camions mit Hilfsgütern am Montag um 22 Uhr den Pier am Strand von Gaza, wo die per Schiff angelieferten WCK-Hilfsgüter auf Lastwagen verladen werden.

Sie fuhren südwärts, um die Nahrungsmittel in ein Lager zu bringen. Um 22 Uhr 20 sah die israelische Armee durch eine Drohne, wie drei weitere Fahrzeuge zum Konvoi dazustiessen. Laut Har-Even folgte acht Minuten darauf die Identifizierung, die später zum Angriff führte: Der Drohnenpilot sah einen bewaffneten Mann auf dem Dach eines fahrenden Lastwagens, der Schüsse abgab. Der Ausschnitt aus der Drohnenaufnahme wurde den anwesenden Journalisten gezeigt.

18 Minuten später erreichten die Lastwagen ein Lager, in dem die Hilfsgüter ausgeladen werden. Dort identifizierte die israelische Armee 15 bis 20 Personen, von denen mindestens zwei bewaffnet waren. «Einer der Kommandanten schloss daraus, dass die Personen beim Lager Hamas-Kämpfer seien», sagt Har-Even. Doch noch sei kein Angriff befohlen worden, denn die Einsatzregeln der IDF würden es verbieten, neben einem Lager oder einem Transport für Hilfsgüter zuzuschlagen.

Um 22 Uhr 55 verliessen dann vier Autos das Lager, die Lastwagen blieben zurück. Kurz darauf teilte sich der Konvoi. Ein Fahrzeug fuhr in den Norden, drei in den Süden. In den drei Autos Richtung Süden befanden sich die WCK-Mitarbeiter. In dem einzelnen Auto, das in den Norden fuhr, identifizierte die israelische Armee nach eigenen Aussagen bewaffnete Männer. «In den drei Fahrzeugen, die Richtung Süden fahren, vermuteten die Soldaten Hamas-Kämpfer», sagt Har-Even. «In den Augen der zuständigen Soldaten war die humanitäre Mission beendet. Sie gingen davon aus, dass sie Hamas-Fahrzeuge verfolgten, in denen sich mindestens ein bewaffneter Mann befindet.»

Das war der erste Fehler: Der Drohnenoperateur sah eine Person mit einer Tasche in eines der drei Autos einsteigen, in dem sich die WCK-Mitarbeiter befanden. Er ging davon aus, dass es sich bei der Tasche um ein Gewehr handelte. Um 23 Uhr 9 folgte der erste Beschuss auf eines der Autos. Zwei Personen, offenbar verletzt, verliessen das Fahrzeug und stiegen in ein anderes Auto aus dem Konvoi ein. Zwei Minuten später wurde auch dieses beschossen. Wieder verliessen zwei Personen das zweite Auto und stiegen in das dritte und letzte Fahrzeug des Konvois ein. Der dritte Beschuss erfolgte um 23 Uhr 13: das war der Zeitpunkt, an dem alle sieben WCK-Mitarbeiter tot waren.

Wie konnte es zu dem Fehler kommen?

«Der grösste Fehler war, dass der Drohnenpilot den Koordinationsplan von WCK nicht vorliegen hatte», sagt Har-Even. «Wichtige Informationen über die zuvor koordinierte humanitäre Mission wurden nicht ordnungsgemäss in der Befehlskette weitergegeben.» Offenbar hatte ein zuständiger Kommandant das E-Mail nicht gelesen, in dem die Route der WCK-Mission sowie die Kontaktinformationen der Helfer festgehalten waren. «Die Informationen wurden weitergegeben, aber der zuständige Soldat hat sie wahrscheinlich nicht gesehen oder nicht gelesen», sagt Har-Even. «Das ist ein Versagen», fügt der Armeesprecher Hagari hinzu. Ein Major und ein Oberst mussten den Drohnenangriff autorisieren. Die beiden Offiziere wurden von ihrer Position abgesetzt, der Brigadekommandant sowie der Kommandant des Südkommandos erhielten einen formellen Verweis.

Zudem wurden laut der israelischen Armee die Einsatzregeln nicht eingehalten. Laut Har-Even wurde dreimal gegen die Einsatzregeln der israelischen Armee verstossen. Erstens wurde der Koordinierungsplan von WCK nicht an die unteren Ränge weitergegeben. Zweitens wurde der Angriff nur auf Basis der Information autorisiert, dass sich ein bewaffneter Mann in einem der Autos befunden hat. Das sei nicht ausreichend, um das Auto als ein legitimes Ziel festzulegen. Der dritte Verstoss gegen die Einsatzregeln ist laut der Armee der weitere Beschuss des zweiten und des dritten Autos. «Diese Angriffe hätten nicht stattfinden dürfen», sagt Har-Even.

Schliesslich bleibt noch der offensichtlichste Fehler: Die Autos von WCK waren klar mit einem Symbol der Hilfsorganisation auf dem Dach markiert. Diese seien in der Nacht allerdings nicht zu erkennen, sagt Armeesprecher Hagari. «Das ist eine der Lehren, die wir daraus ziehen: Wir müssen den Hilfsorganisationen Symbole bereitstellen, die in der Nacht sichtbar sind», sagt Har-Even. Die Ergebnisse der Untersuchung werden nun vom Militärstaatsanwalt gesichtet, der entscheidet, ob ein Strafverfahren gegen die zuständigen Soldaten eröffnet wird.

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