Die Bestandesaufnahme der Zürcher Jugendanwaltschaft hat unbeabsichtigt im Zeichen der Tragödie von Berikon gestanden. Doch es gibt auch eine positive Entwicklung.
Es gibt Taten, die bringen manches in Bewegung. Etwa, wie über ein Thema gesprochen oder politisiert wird. Manche Taten können sogar dazu führen, dass Gesetze geändert werden. Die Tragödie von Berikon ist so ein Kriminalfall, der die Emotionen hochgehen lässt.
Vieles deutet darauf hin, dass am vergangenen Sonntag in der Aargauer Gemeinde Berikon ein Kind von einem anderen Kind getötet worden ist. Spaziergänger entdecken am späten Nachmittag beim Schützenhaus ein schwerverletztes 15-jähriges Mädchen. Jede Hilfe kommt zu spät, das Kind stirbt noch vor Ort.
In der Nähe wird ein weiteres Mädchen von Spaziergängern aufgegriffen. Die 14-Jährige blutet an der Hand, macht einen sonderbaren Eindruck. Die Polizei findet in der Nähe des Tatorts die mutmassliche Tatwaffe. Die Kinder haben sich aus der Schule gekannt. Alles weist darauf hin, dass die 14-Jährige ihre Bekannte erstochen hat.
Noch immer liegt vieles im Dunkeln, etwa die Frage nach dem Motiv. Politische Konsequenzen wurden aber schon tags darauf gefordert. So verlangt die Zürcher SVP-Nationalrätin Nina Fehr Düsel ein verschärftes Jugendstrafrecht bei hoher krimineller Energie und schweren Straftaten. Einem entsprechenden Vorstoss hat der Nationalrat bereits zugestimmt. Bei besonders schweren Straftaten sollen künftig auch Jugendliche nach Erwachsenenstrafrecht beurteilt werden.
Behörden rätseln, warum Täter jünger werden
In diese Stimmungslage fiel die jährliche Bestandesaufnahme der Zürcher Jugendanwaltschaft. Auch wenn der Anlass keine Antwort auf das jüngste Ereignis sein solle, wie die Behörden am Donnerstag nachdrücklich betonten.
So sind es vor allem zwei Bereiche, die die Zürcher Jugendanwaltschaften momentan besonders herausfordern: radikalisierte Jugendliche und immer jüngere Täterinnen und Täter.
Im Jahr 2019 waren rund 19 Prozent der jugendlichen Straftäter zwischen 10 und 14 Jahre alt. Im Jahr 2024 stieg der Anteil dieser Altersgruppe auf rund 29 Prozent. Roland Zurkirchen sagte: «Die Täter werden immer jünger, das macht uns Sorgen.»
Schlüssig erklären kann sich der Leiter der Zürcher Jugendanwaltschaften diese Entwicklung hin zu jüngeren Tätern bis jetzt nicht. Es sei möglich, dass die Jugendlichen heute früher selbständig würden. Möglich sei aber auch, dass dies einen Corona-Effekt darstelle oder mit der allgemeinen Weltlage zusammenhänge. Die Entwicklung müsse nun jedenfalls wissenschaftlich angeschaut werden.
Was aber auch gesagt werden muss: Die Delikte der verurteilten Teenager bewegen sich hauptsächlich im Bagatellbereich. Bei rund einem Viertel handelt es sich um Delikte im Strassenverkehr, ein Drittel betrifft jugendliche Schwarzfahrer.
Die Antwort darauf, wie diese Entwicklung gebremst werden könnte, scheinen die Behörden bereits zu haben. Zurkirchen sagte, die kriminelle Karriere manch eines Jugendlichen müsse frühzeitig unterbrochen werden. Weil bei so jungen Menschen die Persönlichkeitsstruktur noch stark formbar sei, stünden erzieherische und therapeutische Massnahmen im Vordergrund.
Deutsche schauen in die Schweiz
Denn während bei Erwachsenen das Delikt für die Strafe ausschlaggebend ist, geht es bei Minderjährigen um die Frage, was dazu führte, dass die Täterin oder der Täter straffällig geworden ist.
Im Fall Berikon ist die Verdächtige unter 15 Jahre alt. Für Straffällige in diesem Alter sieht das Schweizer Jugendstrafrecht nicht einmal eine längere Freiheitsstrafe vor. Die höchste vorgesehene Sanktion besteht in der Erbringung einer persönlichen Leistung von maximal zehn Tagen.
Allerdings steht Jugendlichen bei derart schweren Delikten meist eine jahrelange stationäre psychiatrische Behandlung bevor, möglicherweise in einer geschlossenen Institution. Was allerdings keine Sanktion darstellt.
Einer Verschärfung des Jugendstrafrechts steht Roland Zurkirchen ablehnend gegenüber. «Ich finde es traurig, wenn wegen eines tragischen Einzelfalls Polemik und Politik gemacht wird.» In der Schweiz stehe nicht die Strafe, sondern der Schutz und die Erziehung im Zentrum.
Zurkirchen zieht Parallelen zu einem ähnlichen Fall in Deutschland. Damals erstachen zwei Mädchen eine Gleichaltrige. Die Ermittlungen wurden nach wenigen Monaten eingestellt, weil die Beteiligten wegen ihres Alters noch unmündig waren. «Damals verwiesen die Deutschen auf das Jugendstrafrecht in der Schweiz», sagt Zurkirchen. Dies, weil das hiesige Jugendstrafrecht über 10-Jährige als strafmündig ansehe und damit ein grösserer Handlungsspielraum bestehe.
Das schweizerische Jugendstrafrecht sei eben nicht tat-, sondern täterorientiert. Zurkirchen sagt: «Mit härteren Strafen bringt man keine Besserung hin.» Die Behörden hätten genügend Werkzeuge, man müsse nicht das ganze System umstellen. Mit dem Jugendstrafrecht könnten die Behörden die Bevölkerung schützen.
Gewaltwelle ist fürs Erste gestoppt
Die andere Sorge der Behörden betrifft die Radikalisierung von Jugendlichen. Zwei derartige Fälle sorgten vergangenes Jahr in Zürich für Schlagzeilen. So hat ein damals 15-Jähriger in Zürich Selnau auf offener Strasse einen orthodoxen Juden mit einem Messer lebensgefährlich verletzt. Beim Täter handelt es sich um einen Anhänger des Islamischen Staats, ein Schweizer mit tunesischen Wurzeln.
Im anderen Fall sorgten zwei Teenager, 14 und 17 Jahre alt, mit ihren Terrordrohungen gegenüber der Zurich Pride, dem grössten queeren Umzug des Landes, für Angst und Schrecken. Recherchen der NZZ zeigten, dass die beiden Jugendlichen einen islamistischen Hintergrund aufwiesen. Der Ältere der beiden soll sich in einschlägigen Kanälen danach erkundigt haben, wie man einen Anschlag mit einem Lastwagen durchführen könnte.
Auch bei den radikalisierten Teenagern gilt für die Zürcher Behörden, so früh wie möglich zu intervenieren. Die Herausforderung sei hier aber, dass über Kantons- und sogar Landesgrenzen hinweg ermittelt werden müsse.
Was nebst den extremen Einzelfällen fast untergeht: Insgesamt stellen die Behörden bei der Jugendkriminalität einen Rückgang fest. Im letzten Jahr gerieten im Kanton Zürich 6290 Teenager mit dem Gesetz in Konflikt. Das sind 5,4 Prozent weniger als 2023 (6648 Straftaten). Nach acht Jahren steigender Zahlen bedeutet dies erstmals einen Rückgang.
Dazu kommt: Unter Zürcher Teenagern gibt es weniger Gewalttaten. Letztes Jahr wurden im Kanton Zürich 954 Teenager wegen eines Gewaltdelikts verzeigt. Das sind 4,2 Prozent weniger als im Jahr 2023 mit 996 Straftaten.
Die Gewalttaten reichen von Tätlichkeiten wie einer Ohrfeige bis hin zu schweren Körperverletzungen.
Eine Gruppe fällt aber vermehrt auf: jene der ausländischen Jugendlichen. Deren Verurteilungen lagen 2024 mit 40,7 Prozent über dem langjährigen Mittel von rund einem Drittel. Zurkirchen betont, dass es hier «nicht die grossen Geschichten sind, sondern Bagatellfälle», die für diese Steigerung gesorgt hätten.
Ob bei der Jugendgewalt eine Trendumkehr stattgefunden hat, kann man in Zürich dieser Tage aber noch nicht sagen.