Montag, November 25

Israels Parlament verbannt das Uno-Hilfswerk aus dem Land. Für die humanitäre Lage im Gazastreifen und die öffentliche Ordnung im Westjordanland könnte der Schritt schwere Folgen haben. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Mitten auf dem «Munitionshügel» in Jerusalem befindet sich ein blaues Tor, auf dem Schild daneben steht in grossen Buchstaben «UNRWA-Feldbüro für das Westjordanland» geschrieben. 1967 gewann Israel hier die entscheidende Schlacht gegen die jordanische Armee, die schliesslich zur Eroberung der Jerusalemer Altstadt und zur Besetzung des Westjordanlands führte.

Nach dem Sieg schloss Israel einen Vertrag mit der UNRWA ab. Darin wurde festgelegt, dass das Uno-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge seine Arbeit auch in den besetzten Gebieten fortsetzen kann und dass Israel die UNRWA dabei unterstützt. Dieser Vertrag hat am Montagabend seine Gültigkeit verloren – sofern das von der Knesset verabschiedete Gesetz im Wortlaut umgesetzt wird.

Mit einer überwältigenden Mehrheit beschloss das israelische Parlament am ersten Tag nach seiner Sommerpause zwei potenziell weitreichende Gesetze. Sie verbieten der UNRWA jegliche Aktivität auf israelischem Territorium und israelischen Behörden den Kontakt mit dem Hilfswerk. In Kraft treten sollen diese Gesetze in drei Monaten.

Auch die UNRWA weiss nicht, was jetzt geschieht

Jonathan Fowler bittet in ein schmuckloses Sitzungszimmer. An der Wand prangt das Logo der Organisation, für die Fowler – ein Brite mit Vollbart und Glatze – als Pressesprecher arbeitet. Einen Tag nach dem Knesset-Erdbeben herrscht eine Grabesstille in den Fluren des Gebäudes. Es scheinen sich mehr Journalisten als Mitarbeiter auf dem Gelände zu befinden. Schon seit mehr als einem Jahr können UNRWA-Angestellte aus dem Westjordanland nicht mehr hierhin kommen. Israel verweigert ihnen die Genehmigung.

Für Fowler ist es ein anstrengender Tag. Sein Terminkalender ist übervoll. Der UNRWA-Sprecher muss erklären, absprechen, beschwichtigen und zwischendurch immer wieder auf sein Handy schauen. Über allem schwebt die grosse Frage: Was jetzt? Auch er kann das nicht mit Sicherheit beantworten. «Es könnte sein, dass wir dieses Gebäude verlieren», sagt Fowler. Doch darum gehe es nicht. «Wir dürfen nicht vergessen, dass es hier vor allem um Menschen geht, die uns brauchen: die palästinensischen Flüchtlinge. Deren Not ist vor allem in Gaza momentan besonders gross.»

Die UNRWA kümmert sich um 5,9 Millionen sogenannte palästinensische Flüchtlinge in den von Israel besetzten Gebieten sowie in den Nachbarländern Syrien, Libanon und Jordanien. Gemäss dem Mandat des Hilfswerks wird der Flüchtlingsstatus vererbt. Auch die Kinder und Enkelkinder der 700 000 Palästinenser, die nach der Gründung Israels im Jahr 1948 vertrieben wurden, haben Anspruch auf Leistungen des Uno-Hilfswerks.

UNRWA hat die meisten Mitarbeiter in Gaza

Noch sei vieles hypothetisch, da unklar sei, wie das Gesetz umgesetzt werde, sagt Fowler. Doch falls israelischen Beamten der Kontakt mit der UNRWA untersagt werde, hätte dies enorme Konsequenzen für die humanitäre Lage im Gazastreifen. So könne die Organisation beispielsweise die Verteilung der Hilfsgüter in Gaza nicht mehr mit der israelischen Armee koordinieren, sagt Fowler. Auch könne es keine Hilfsgüter mehr am Hafen von Ashdod in Empfang nehmen, etwa weil UNRWA-Mitarbeiter keine Visa mehr erhalten oder die israelischen Zollbehörden die Zusammenarbeit verweigern würden.

Im Gazastreifen werden Hilfsgüter zwar nicht nur von der UNRWA verteilt, sondern auch von anderen Uno-Organisationen wie der WHO oder dem Welternährungsprogramm. Auch private Organisationen sind vor Ort. Doch vor allem die UNRWA kümmere sich darum, die humanitäre Hilfe zu den Menschen zu bringen, erklärt Fowler. «Keine andere Organisation verfügt über so ein weitreichendes Netzwerk wie wir», sagt der UNRWA-Sprecher.

«Wir haben immer noch rund 5000 Mitarbeiter vor Ort, die sich um die Logistik kümmern.» Andere Uno-Organisationen hätten nur rund 250 Mitarbeiter im Gazastreifen, schätzt Fowler. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Angaben nicht. Vor dem Krieg verfügte UNRWA über rund 12 000 Mitarbeiter in dem Küstengebiet.

Tiefe Krise im Westjordanland

Doch auch im israelisch besetzten Westjordanland betreibt die UNRWA Schulen, Gesundheitszentren und öffentliche Infrastruktur in insgesamt 19 sogenannten Flüchtlingslagern. Diese sind heute keine Zeltstädte mehr, sondern haben sich über Jahrzehnte in Quartiere mit festen Häusern verwandelt.

Eine rigorose Umsetzung des von der Knesset verabschiedeten Gesetzes hätte unabsehbare Folgen für die öffentliche Versorgung der palästinensischen Gebiete, die schon jetzt in einer tiefen Wirtschaftskrise stecken. So könnten UNRWA-Mitarbeiter wohl keine Checkpoints mehr passieren, Spitäler könnten keine Medikamente mehr importieren.

Israel will nun innerhalb von drei Monaten einen Ersatz für die Aktivitäten des Palästinenserhilfswerks finden. Fällt die UNRWA tatsächlich weg, wäre Israel als Besetzungsmacht völkerrechtlich allein für eine adäquate Versorgung der Zivilbevölkerung verantwortlich.

Eine Alternative für die UNRWA muss noch gefunden werden

Am Montag sagte einer der Initiatoren der UNRWA-Gesetze, dass während der dreimonatigen Übergangsperiode und danach die Aktivitäten der UNRWA von anderen Organisationen übernommen würden. Entsprechende Pläne würden von Cogat ausgearbeitet, jener israelischen Regierungsbehörde, die für die besetzten Gebiete zuständig ist. Diese Pläne seien jedoch noch geheim.

Eitan Dangot leitete die Cogat-Behörde zwischen 2009 und 2013. «Ich halte die gestern getroffene Entscheidung für richtig», sagt der frühere israelische Generalmajor am Montag im Gespräch mit Journalisten. «Es gibt klare Beweise, dass UNRWA-Mitarbeiter an terroristischen Aktivitäten beteiligt waren.» Schon in seiner aktiven Zeit habe es Informationen gegeben, dass Jugendliche militärische Übungen in UNRWA-Sommercamps abgehalten hätten.

Dangot gibt zu, dass noch unklar sei, was auf die UNRWA folge, wenn die Organisation im Gazastreifen ausfalle. «Israel ist, was eine neue Administration Gazas angeht, im Verzug.» Eine neue Ordnung ohne die UNRWA und die Hamas funktioniere nur, wenn die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) involviert werde, dessen ist sich Dangot sicher. Die PA müsse Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen übernehmen, auch im Westjordanland. Um die Hilfslieferungen könnten sich andere Uno-Organisationen kümmern.

Doch genau dagegen sträubt sich die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Sie befürchtet, dass mit einer Beteiligung der PA eine Türe für die Gründung eines palästinensischen Staats geöffnet wird, den sie um jeden Preis verhindern will. So ist die Gefahr gross, dass drei Monate verstreichen werden, ohne dass eine arbeitsfähige Alternative für die UNRWA gefunden wird. Das Leid im Gazastreifen könnte unermesslich werden – und das Westjordanland im Chaos versinken.

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