Der französische Präsident hat Neuwahlen für Ende des Monats angekündigt. Damit könnte das Rassemblement national in Kürze an der Regierung beteiligt sein. Die wichtigsten Antworten.
Nach der krachenden Niederlage seiner Partei bei den Europawahlen hat der französische Präsident Emmanuel Macron am Sonntagabend Neuwahlen für sein Land angekündigt. Er könne nicht so tun, als ob nichts geschehen wäre, sagte Macron in einer Fernsehansprache.
Für den Präsidenten ist es eine riskante Wette, schliesslich könnten rechte Parteien als grosse Sieger aus den Parlamentswahlen hervorgehen. Was hat Macron dazu gebracht? Und wie geht es jetzt und nach den Wahlen weiter?
Was ist passiert?
Das rechtsnationale Rassemblement national (RN) hat bei den Europawahlen in Frankreich einen haushohen Sieg eingefahren. Die Partei erhielt fast 32 Prozent der abgegebenen Stimmen und damit mehr als doppelt so viele wie Macrons Partei Renaissance. Die Umfragen in den vergangenen Monaten hatten ein solches Ergebnis prognostiziert.
Kurz nach Veröffentlichung der ersten Hochrechnungen wandte der französische Präsident sich am Sonntagabend mit einer Ansprache an sein Volk. Er habe die Botschaft der Wähler gehört und werde sie nicht unbeantwortet lassen, so Macron. Das Parlament werde aufgelöst, Ende des Monats sollten Neuwahlen stattfinden. Er habe jedoch Vertrauen in die Fähigkeit des französischen Volkes, die richtige Entscheidung für sich selbst und künftige Generationen zu treffen.
Was sind die Reaktionen?
Mit einem solchen Schritt hatte in Frankreich niemand gerechnet, vermutlich nicht einmal diejenigen, die in den vergangenen zwei Jahren wiederholt die Auflösung der Nationalversammlung gefordert hatten. Die Titelseiten französischer Zeitungen sprachen am Montagmorgen von einem «Schock» und einem «Donnerschlag». Auch zentrale Mitglieder von Macrons Regierung erfuhren laut der Zeitung «Le Monde» erst kurz vor ihrer Bekanntgabe von den Plänen des Präsidenten.
Das Rassemblement national triumphierte. In einer ersten Reaktion am Sonntagabend sagte Marine Le Pen, ehemalige Parteivorsitzende und Chefin der Parlamentsfraktion, ihre Partei sei bereit, die Macht in Frankreich auszuüben. Der derzeitige RN-Vorsitzende und Spitzenkandidat Jordan Bardella hatte die EU-Wahl während des Wahlkampfs mehrfach zum Referendum über die französische Regierung hochstilisiert.
Aus dem Lager der Sozialisten, der drittstärksten Kraft bei der Europawahl, kam hingegen Kritik. Der Spitzenkandidat Raphaël Glucksmann warf Macron vor, einen politischen Poker zu spielen, der den derzeitigen Herausforderungen nicht gerecht werde. Er kündigte an, eine Widerstandskraft gegen die extreme Rechte zu bilden. Am Montagnachmittag kamen die linken Parteien, namentlich die Sozialisten, die Grünen, La France insoumise und die kommunistische Partei, zu einem Treffen zusammen. Zuvor hatte Manon Aubry, Spitzenkandidatin von La France insoumise, ein Bündnis der Parteien gegen die Rechten vorgeschlagen.
Wie ist die Situation im französischen Parlament?
Seit der letzten Parlamentswahl ist das Regieren für Macron mühsam geworden, denn seiner Partei fehlt eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Darum hat sich Macrons Regierung inzwischen mehr als zwanzig Mal des Artikels 49,3 bedient, der es erlaubt, ein Gesetz ohne Abstimmung durchs Parlament zu bringen.
Von links wie von rechts gab es dafür viel Kritik, und auch in der französischen Öffentlichkeit kam Macrons Durchregieren nicht gut an. «Wir brauchen Klarheit», sagte der Präsident am Sonntagabend. Doch darauf, durch Neuwahlen wieder auf eine absolute Mehrheit kommen zu können, kann er kaum hoffen.
Warum ist die Rechte in Frankreich so erfolgreich?
Für das Rassemblement national war der vergangene Sonntag ein beispielloser Erfolg: Zusammen mit der noch radikaler auftretenden Partei Reconquête kommen die Rechtsaussenparteien in Frankreich nun auf rund 37 Prozent.
Dass die Parteien bei der Parlamentswahl genau so hohe Werte erzielen werden, ist allerdings nicht zu erwarten. Bei französischen Parlamentswahlen gilt, anders als in der EU, ein Mehrheitswahlrecht. Das bedeutet, dass die Kandidaten mit den meisten Stimmen in den jeweiligen Wahlkreisen im zweiten Wahlgang zur Stichwahl antreten, derjenige mit den meisten Stimmen erhält den Sitz. Das EU-Parlament wird hingegen in einer Verhältniswahl gewählt, bei der sich die Stimmanteile der Parteien in Sitzanteile im Parlament übertragen.
Macron hatte einst versprochen, mit ihm an der Spitze werde es keine Gründe für die Wahl rechtsnationaler Parteien mehr geben. Doch die Gruppe um Le Pen wird immer stärker. Die Unzufriedenheit mit dem Präsidenten ist bei vielen französischen Wählern gross. Laut einer Umfrage der Universität Sciences Po vom Februar vertraut nur jeder dritte Mensch in Frankreich der Politik. Knapp 70 Prozent bezweifeln, dass die Demokratie in Frankreich grundsätzlich funktioniert.
Le Pen spricht diese Gefühle an, indem sie sich als Stimme des Anti-Establishments positioniert. Zudem hat sie in den vergangenen Jahren ihre Partei thematisch geöffnet; sie versuchte sich als Fürsprecherin der Gelbwesten zu positionieren (was ihr nicht gelang) und kämpfte an vorderster Front gegen die von Macron gegen den Willen einer Mehrheit durchgedrückte Rentenreform.
Dadurch ist es ihr gelungen, ihre Partei ein Stück zu «normalisieren» und bis weit in die bürgerliche Mitte hinein wählbar zu machen. RN-Politiker sind bemüht, ihre Ansichten als weniger radikal erscheinen zu lassen. Der jüngste Bruch des RN mit der AfD passt zu dieser Taktik. Le Pens 28-jähriger Zögling Jordan Bardella ist besonders bei jungen Wählern beliebt.
Schliesslich könnte auch Macrons Ukraine-Politik einen Einfluss auf die Wahl gehabt haben: Vor wenigen Wochen schloss er nicht aus, französische Soldaten in den Krieg zu entsenden – was laut einer Umfrage 80 Prozent der Franzosen ablehnen. Als er vergangene Woche ankündigte, der Ukraine Mirage-Kampfjets zu überlassen, warf Le Pen ihm vor, Frankreich in den Krieg führen zu wollen.
Wie geht es jetzt weiter?
Frankreich stehen Wochen des politischen Stillstands bevor. Das Parlament ist aufgelöst, geplante Abstimmungen, wie etwa zu einem Gesetz zur Sterbehilfe, werden verschoben. Macrons Position ist davon nicht betroffen, da der Präsident in Frankreich direkt gewählt wird.
Neuwahlen für die grosse Kammer des Parlaments finden in zwei Wahlgängen am 30. Juni und am 7. Juli statt. Der Wahlkampf wird also kurz, und die Chance, dass das RN stärkste Kraft wird, ist gross. Damit dürfte die Partei den Regierungschef stellen, und Macron müsste mit ihr regieren.
Die Cohabitation, eine Konstellation, in der Präsident und Regierungschef nicht aus demselben politischen Lager stammen, gab es in Frankreich erst drei Mal. Der Präsident hat in einem solchen Fall weniger Einfluss auf das politische Tagesgeschäft, das in den Händen der Regierung liegt. Macron könnte dann nur noch in der Aussenpolitik und bei der Verteidigung mitentscheiden und allenfalls seine Opposition kundtun, indem er Gesetzesvorhaben nicht unterzeichnet.

