Freitag, Oktober 4

Die rauschhaften EM-Sommerwochen sind weit weg, das Schweizer Nationalteam ist im tristen Herbst angekommen. Die gute Nachricht ist: Der Coach Murat Yakin kennt diese Situation – er hat sie schon einmal gemeistert.

Am 4. Juni 2022 schrieb die NZZ: «Die Flitterwochen sind vorbei für Murat Yakin.» Es ging darum, dass der Nationalcoach nach einem überraschend erfolgreichen Start ab Sommer 2021 im mühsamen Alltag angekommen war – und vor allem einen Weg finden musste, endlich angemessen mit Granit Xhaka umzugehen.

Es dauerte dann ein bisschen länger, bis sich der Trainer und sein Captain gefunden hatten. Und jetzt, Mitte September 2024, könnte man wieder schreiben: «Die Flitterwochen sind vorbei für Murat Yakin.» Der unbeschwerte Sommer, die Lässigkeit der wunderbaren EM-Tage in Deutschland, die begeisternden Auftritte an der Europameisterschaft – lange her. Der Herbst ist da, nass und trist und grau, und dazu passen die Schweizer Ergebnisse in der Nations League in den letzten Tagen: 0:2 in Dänemark, 1:4 am Sonntagabend in Genf gegen den Europameister Spanien.

Und Murat Yakin sagt: «Wir sind im Umbruch, wir benötigen Zeit, die Spieler müssen in den Rhythmus kommen.» Yakin gilt als einer, der schnelle und auch mal vernichtende Urteile über Fussballer fällt. Und er weiss deshalb genau, wie schwierig es in den nächsten Monaten werden wird, eine Mannschaft aufzubauen, die nicht nur den Sprung an die WM 2026 schafft – sondern an der Weltmeisterschaft in zwei Jahren erneut Grenzen verschieben soll.

Denn darum geht es, einzig darum: An Turnieren definiert sich das Vermächtnis von Teams und Trainern. Nicht in der Nations League.

Die Bildung einer neuen Hierarchie

Die ersten zwei Auftritte nach der rauschhaften EM haben jedoch gezeigt, dass die Schweizer nur dann in der Lage sind, mit den besten Nationen des Kontinents mitzuhalten, wenn vieles für sie läuft. Die Basis für die starken Leistungen an der Euro bildeten das System, die Stabilität, das Selbstvertrauen. Und: Der Ball rollte für die Schweiz, der unsägliche VAR war nicht gegen sie, Yakins Griffe in die Trickkiste funktionierten.

Es ist immer eine Gratwanderung, wenn Yakin Yakin-Dinge tut, also auch mal seltsame Entscheidungen trifft und solche, die nicht auf den ersten oder auch nicht auf den zweiten Blick sinnvoll erscheinen – aber manchmal eben auch genial sind. Jetzt ist er gefordert in dieser Spezialdisziplin, weil es seiner Mannschaft gerade an sehr vielem fehlt, um auf dem Niveau eines Viertelfinalisten einer WM oder EM zu sein.

Am Sonntagabend sagte Yakin nach dem 1:4 gegen Spanien, sein Team vermisse die Genialität von Fabian Schär und Xherdan Shaqiri. Die Aussage war korrekt, aber sie hatte etwas Sonderbares, weil Yakin nicht immer auf die beiden gesetzt hatte – und deren Rücktritte nach der EM auch ein wenig mit dem Umgang und der zuweilen irritierenden Kommunikation des Nationaltrainers zu tun haben.

Murat Yakin sagte in den letzten Tagen auch: «Wir haben eine neue Hierarchie. Jetzt müssen sich andere, neue Spieler entwickeln.» Das geht tatsächlich nicht von heute auf morgen. Und wenn dann noch der unentbehrliche Stratege und Chef Xhaka wie gegen Spanien gesperrt ausfällt, fehlt es dem Schweizer Team an Ordnung und Homogenität, an Klasse und Struktur.

Der Abwehrchef Manuel Akanji sprach am Sonntagabend von der Kommunikation, die sich verbessern müsse. Und das beginnt ganz hinten, wo Gregor Kobel als einer der weltbesten Goalies gilt. Aber in den letzten zehn Jahren hütete Yann Sommer das Tor, er war wie ein liebgewonnenes Familienmitglied, die anderen Leaderfiguren hatten sich an Zusammenspiel, Ansprache, Spielweise gewöhnt.

Der Sommer ist definitiv vorbei. Kobel ist anders. Und er hat in seinen Länderspielen bisher nie derart stark und dominant gespielt wie bei Borussia Dortmund. Aber immerhin weiss Yakin, dass Kobel ein erstklassiger Goalie ist.

In der Abwehr ist guter Rat teuer

In der Abwehr fehlt diese Perspektive. Es gibt den überzeugenden Akanji, aber es gibt zum Beispiel keine Alternative zu Schär. Womöglich hat sich Yakin schon Gedanken gemacht, ob es sich nicht vielleicht lohnen könnte, in den nächsten Wochen einmal nach Newcastle zu fliegen und das Gespräch mit Schär zu suchen. All die Kandidaten in der Abwehr wie Becir Omeragic, Leonidas Stergiou und Aurèle Amenda sind noch nicht so weit, sich als Leistungsträger im Nationalteam zu etablieren. Oder werden es wie der gegen Spanien überforderte Grégory Wüthrich vielleicht gar nie sein.

Wobei man fairerweise festhalten muss, dass Omeragic gegen Spanien kurzfristig für den verletzten Silvan Widmer auf einer Position rechts im Aufbau spielen musste, die er nicht kennt. Und später links in der Dreierkette gleich noch einmal. Sein Stellungsfehler vor dem dritten Gegentor war eine Folge seiner Unsicherheit – und des Yakin-Dings, Spielern in ungewöhnlichen Rollen zu vertrauen. Dazu passt, dass Widmer vor den beiden Länderspielen wegen fehlender Spielpraxis zuerst nur auf Pikett gestanden hatte, dann aber trotzdem gleich zweimal in der Startformation figurierte.

Die Aussenpositionen sind weiterhin eine Problemzone. Der zuletzt verletzte Dan Ndoye wird bestimmt eine Planstelle besetzen, aber er kann nicht links und rechts gleichzeitig spielen. Im Zentrum wiederum enttäuschte Denis Zakaria ein weiteres Mal. Vielleicht wäre es eine Idee, ihn in die Abwehr zu beordern, aber dann müsste Zakaria in der Mitte verteidigen – und vor allem Akanji bereit sein, nicht den Chef zu spielen, sondern auf die rechte Seite zu rücken. Das könnte funktionieren, zumal Akanji wie Schär in der Lage ist, präzise Diagonalpässe über 40, 50 Meter zu schlagen. Beispielsweise auf den schnellen Ndoye.

Ein herausforderndes Puzzle

Gefordert ist Yakin also nicht nur als Erfinder, sondern auch als sensibler Kommunikator. Es ist nicht seine beste Rolle. Der Trainer müsste im Prinzip auch die Türe schleunigst wieder öffnen für Noah Okafor, der sich an der EM als Reservist nicht akzeptabel verhalten hatte und von Yakin vorerst nicht mehr berücksichtigt wird – aber als Stürmer eine der wenigen valablen Optionen ist, um Breel Embolo zu entlasten.

Auch Zeki Amdouni besitzt das Potenzial, in der Offensive jahrelang ein Fixpunkt zu sein. Das gilt erst recht für Ruben Vargas, der womöglich sogar eine Reihe weiter hinten à la Ndoye funktionieren könnte. Es wäre eine sehr mutige Variante, es wäre ein Yakin-Ding. Vargas war gegen Spanien vor allem vor der Pause der mit Abstand auffälligste Schweizer. Nach fünf Jahren möchte er unbedingt weg aus Augsburg, aber hat den Absprung im Sommer nicht geschafft. Und jetzt, nach dieser Bewerbungshalbzeit gegen Spanien, sind nur noch Transfers in wenige Länder wie die Türkei möglich.

Murat Yakin steht also vor einem herausfordernden Puzzle, einem für fortgeschrittene Fussballlehrer. Immerhin gibt es Mittelfeldspieler wie Fabian Rieder, Vincent Sierro und Filip Ugrinic, die sich in den Vordergrund spielen könnten. Zuletzt rollte der Ball auch nicht für die Schweiz, der VAR liess die Auswahl im Stich, Yakins Griffe in die Trickkiste funktionierten nicht. Die gute Nachricht für ihn ist: Er hat im Herbst 2024 nach den Flitterwochen 2.0 deutlich mehr Kredit als im Sommer 2022.

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