Die Schweizer Leichtathleten sind so stark und breit aufgestellt wie noch nie. An den EM in Rom gewinnen sie die Rekordzahl von neun Medaillen. Jetzt müssen die Ansprüche steigen.
Den Schlusspunkt setzte Dominic Lobalu. Der Langstreckenläufer gewann am Mittwochabend mit Gold über 10 000 Meter die Medaille Nummer neun für die Schweiz. Das ist eine Bestmarke. An den Europameisterschaften vor zwei Jahren in München hatte die Schweiz noch sechs Podestplätze erreicht.
Die Schweizer Leichtathletik hat an diesen EM nicht nur wegen der Rekordzahl von Medaillen Historisches erreicht. Mujinga Kambundji ist die erste Schweizerin, die zweimal EM-Gold gewonnen hat, und erstmals hat die Schweiz über 200 Meter sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern triumphiert. Auch vier Medaillen an einem Abend wie am vergangenen Samstag gab es noch nie. Die Liste der Superlative liesse sich verlängern.
Der Präsident des internationalen Leichtathletikverbandes, Sebastian Coe, sagte am Rande der EM, die Schweiz gehöre zu den fünf Nationen, die sich in der letzten Dekade am stärksten entwickelt haben. Das ist ein schönes Kompliment. Doch das wird, gepaart mit dem Medaillenregen von Rom, dazu führen, dass die Ansprüche höher werden.
Die Schweiz reüssiert in Rom quer durch die Disziplinen
Für diesen Vergleich ist man bei Swiss Athletics bereit. In Rom zeigte sich, wie breit aufgestellt die Schweizer Spitzenleichtathletik mittlerweile ist. Waren früher einzelne Athleten wie der 800-m-Läufer André Bucher oder Viktor Röthlin im Marathon für Medaillen verantwortlich, hat die Schweiz heute zahlreiche Anwärter auf einen Podestplatz. Die Schweiz holte in Rom zudem Medaillen quer durch die Disziplinen – im Sprint, über die Hürden, im Stabhochsprung, im Weitsprung und über die Langstrecke.
Die erfolgreichen EM in Rom sind der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die an den Heim-EM 2014 in Zürich ihren Anfang nahm. Dort gab es zwar nur eine Schweizer Medaille, Kariem Hussein triumphierte über 400 Meter Hürden. Doch der Funke sprang auf das Publikum über und veränderte die öffentliche Wahrnehmung der Leichtathletik. Die Europameisterschaften von Zürich gelten als Musterbeispiel dafür, wie man einen Grossanlass im eigenen Land nutzen kann, um eine Sportart zu dynamisieren.
Die Leichtathletik funktioniert in der Schweiz anders als in vielen anderen Ländern. Bei der Talentfindung spielen Wettkampfformate für Kinder wie der UBS Kids Cup oder der Visana Sprint eine wichtige Rolle, der sensationelle 200-Meter-Europameister Timothé Mumenthaler etwa fand auf diesem Weg zur Leichtathletik. Die Förderung der Athletinnen und Athleten geschieht dann nicht nur durch den Verband in Leistungszentren und Stützpunkten, sondern vor allem durch Vereine in der Provinz.
Wer wird Nachfolger von Werner Günthör?
Es gibt also viele Gründe dafür, dass die Schweiz in Zukunft den Vergleich auch mit Sportlerinnen und Sportlern aus grossen Leichtathletiknationen in Nordamerika oder Afrika nicht zu scheuen braucht. Die Zukunft sieht rosig aus, ausser der 31-jährigen Kambundji sind alle Medaillengewinner von Rom Mitte zwanzig und dürften sich weiterentwickeln. Die Schweizer Leichtathletik ist bereit für die nächste Stufe. Das bedeutet: regelmässige Podestplätze an WM und eine Olympiamedaille.
Die vergleichsweise kleine Bevölkerung ist dabei kein Hindernis, das zeigen die Norweger. Jakob Ingebrigtsen über 1500 m sowie der Langhürdler Karsten Warholm gewannen in Tokio olympisches Gold. Es gibt keinen Grund, weshalb das nicht auch einer Schweizerin oder einem Schweizer gelingen sollte.
Seit der Jahrtausendwende haben die Schweizer lediglich vier WM-Medaillen geholt, auch weil die Breite fehlte. Die letzte Olympiamedaille für einen Schweizer Leichtathleten gab es vor 36 Jahren: Der Kugelstösser Werner Günthör gewann 1988 in Seoul Bronze.
Eine Olympiamedaille ist also die neue Messlatte für die Schweizer Spitzenkräfte in der Leichtathletik – und sie muss das Ziel sein, schon in Paris; die Hürdensprinterin Ditaji Kambundji oder der Mehrkämpfer und Weitspringer Simon Ehammer scheinen prädestiniert dazu.