Mittwoch, März 19

Nach zwanzig Jahren Forschung melden China und die USA Erfolge bei den ersten experimentellen Behandlungen bei einem speziellen Gendefekt. Aber garantiert das ein lebenslanges Hören?

Die Geschichte des 11-jährigen Aissam Dam aus Marokko ist bewegend. Der von Geburt an gehörlose Bub konnte in seinem Heimatland keine Schule besuchen, keine Gebärdensprache lernen. Als er mit seiner Familie vor einigen Jahren nach Barcelona zog, bekam er ein ganz neues Leben. Dank der Vermittlung eines spanischen Arztes erhielt Aissam vergangenen Oktober in den USA eine Gentherapie im Innenohr. Jetzt kann er auf diesem Ohr Autos, das Klappern der Schere beim Friseur, Musik, die Stimmen seiner Eltern hören. «Erst war es für ihn beängstigend, jetzt liebt er alle Geräusche», erzählte sein Vater in amerikanischen Medien.

Aissam ist kein Einzelfall. In den vergangenen Monaten gelang es weltweit bei mehr als einem Dutzend Kindern mit angeborener Taubheit, durch eine Gentherapie das Hörvermögen herzustellen. Bei manchen wurde wie bei Aissam aus Sicherheitsgründen nur ein Ohr behandelt, bei einigen Kindern in China auch bereits beide Ohren.

Noch sind das alles rein experimentelle Behandlungen im Rahmen kleiner klinischer Studien. An einer Konferenz im kalifornischen Anaheim diskutieren am ersten Februarwochenende Kinderärztinnen, Wissenschafter und Ohrenspezialisten über die bisher vorliegenden Erkenntnisse.

Wenn das Otoferlin-Eiweiss fehlt

Alle behandelten Kinder weisen denselben Gendefekt auf. Im Innenohr wird kein funktionierendes Otoferlin-Molekül gebildet. Dieses Eiweiss spielt beim Hören eine sehr wichtige Rolle. Weltweit weisen rund 200 000 Personen solch einen Otoferlin-Gendefekt auf.

Wenn Schallwellen im Innenohr eintreffen, biegen sich die dort stehenden Härchenzellen – als ob ein Wind durch ein Ährenfeld wehe. Eine ins Ohr geflüsterte Liebeserklärung ist ein sanftes Streicheln, das Heavy-Metal-Konzert ein Orkan. Otoferlin fungiert als Kommunikationsmanager: Das Protein meldet dem Hörnerv, dass ein Wind weht, und aktiviert somit die Weiterleitung der Information ins Gehirn.

Bei der nun angewendeten Gentherapie gegen den Otoferlin-Defekt wurde die Bauanleitung für ein intaktes Otoferlin-Protein in eine Virenkapsel verpackt. Verwendet wurde eine bereits in anderen Gentherapien erprobte Genfähre, ein Adenovirus. Eine Lösung mit mehreren Millionen vollbeladenen Kapseln wurde direkt in das Innenohr injiziert. Dort schleusten die Genfähren ihre kostbare Fracht direkt in die Härchenzellen. Die Zellen starteten mit der Produktion von intaktem Otoferlin.

Bereits nach vier Wochen habe Aissam erste Geräusche hören können, berichtet das Ärzteteam vom Kinderspital in Philadelphia, wo die Behandlung stattfand. Die chinesischen Forscher meldeten erste Hörerlebnisse bei ihren Probanden nach vier bis sechs Wochen. Hörtests ergaben, dass viele der Kinder mittlerweile ein weitgehend normales Hörvermögen besitzen. Während die kleinen Patienten vorher nicht einmal eine Autohupe wahrnahmen, die ihnen direkt ins Ohr tutete, hörten sie nun Verkehrslärm oder eine Unterhaltung in normaler Zimmerlautstärke. Manche können mittlerweile sogar telefonieren. Bei einem Kind bewirkte die Gentherapie nichts.

«Seit zwanzig Jahren forschen wir daran, mithilfe einer Gentherapie bei Kindern mit angeborener Gehörlosigkeit das Hörvermögen herzustellen», sagte der Kinderchirurg John Germiller vom Kinderspital in Philadelphia, der auch Aissam behandelt hat, in einem Pressecommuniqué des Spitals. «Endlich ist uns das gelungen.»

Hinter den diversen klinischen Versuchen stehen auch finanzkräftige Unternehmen aus der Pharmabranche. So wurde die Gentherapie, die Aissam in Philadelphia bekam, von Akouos, einer Tochter des Pharmagiganten Eli Lilly, in die Klinik gebracht. Ein anderes Produkt stammt von Regeneron.

In China existieren Kollaborationen zwischen der Universität Fudan und Shanghai Refreshgene Therapeutics sowie Universitäten und der Firma Otovia. In Europa plant das französische Unternehmen Sensorion erste Behandlungen noch dieses Frühjahr.

Ein Idealfall für die Gentherapie

«Die Gentherapie gegen eine spezielle Form der angeborenen Gehörlosigkeit ist ein grosser Fortschritt», das betont Alexander Huber, Facharzt für Ohrenerkrankungen und Spezialist für Ohrchirurgie am Universitätsspital Zürich. «Es ist die erste Neuerung seit der Entwicklung des Cochlea-Implantats in den 1970er Jahren.» Dieses Implantat, das elektronisch den Hörnerv aktiviert, ist derzeit die einzige Möglichkeit für gehörlose Kinder, hören zu lernen.

Der Gendefekt, der bei Aissam und den anderen bisher behandelten Kindern vorliegt, ist aus mehreren Gründen der Idealfall für eine Gentherapie: Die Taubheit ist auf Veränderungen in einem einzigen Gen zurückzuführen. Dieser Gendefekt ist einfach zu bestimmen. Der Hörnerv wie auch die Härchenzellen im Innenohr sind normal entwickelt.

Die neue Gentherapie wirkt notabene nur bei einem Otoferlin-Defekt. Dieser verursacht 5 bis 8 Prozent aller erblich bedingten Fälle von Gehörlosigkeit. Es sind mehr als 150 andere Fehler im Erbgut bekannt, die dies ebenfalls verursachen. Die Erfolge mögen einem also wie der Tropfen auf den heissen Stein vorkommen.

Doch die Tatsache, dass die Gentherapie in fast allen Behandlungen genau so funktioniert hat, wie sich die Tüftler das ausgedacht haben, und zudem keine Nebenwirkungen verursacht hat, weckt neue Hoffnungen. Wissenschafter entwickeln bereits für andere Gendefekte eine ganz ähnliche Therapie wie gegen den Otoferlin-Defekt.

Vorerst können allerdings nur solche Defekte korrigiert werden, bei denen ausschliesslich ein Gen betroffen ist und zudem auch nach der Geburt die komplette Hörmaschinerie, also Hörnerv, Härchenzellen und anderes mehr, intakt bleiben. Ein Innenohr nachbauen kann eine Gentherapie nämlich nicht.

«Es gibt bereits die Vision, dass Ärzte schon vor der Geburt solche Gendefekte mit komplexen Auswirkungen abklären und dann schon im Mutterleib eine Gentherapie durchführen», so beschreibt der Ohrchirurg Huber die Ambitionen der Forschergemeinde. «Aber das ist derzeit noch völlige Zukunftsmusik.»

Wie lange hält der Effekt an?

Und auch bei der so einfach und erfolgreich erscheinenden Gentherapie gegen den Otoferlin-Defekt sind noch viele Fragen offen. Die wichtigste davon: Wie lange wird der Effekt andauern? Niemand kann sagen, ob das Hörvermögen Monate, Jahre oder sogar ein Leben lang bestehen bleibt. Dafür müsste sich das eingeschleuste Gen stabil in das Erbgut der Härchenzellen integrieren und unermüdlich aktiv bleiben. Erst das wäre eine echte Therapie, vergleichbar mit dem Cochlea-Implantat.

Zwar ist denkbar, dass man die Betroffenen bei nachlassendem Effekt erneut mit der Gentherapie behandelt. Doch das war bei früheren Versuchen mit anderen Gentherapien nicht immer erfolgversprechend, manchmal sogar gefährlich. Denn oftmals entwickelt der Körper nach der ersten Injektion Abwehrmechanismen gegen die Virenkapseln. Dadurch werden die Genfähren vor dem Eindringen in ihre Zielzellen abgeblockt oder Immunreaktionen ausgelöst.

Warum eine sehr frühe Therapie so wichtig ist

Einigkeit herrscht darüber, dass man mit der Gentherapie so früh als möglich beginnen sollte. Denn man möchte nicht nur den Kindern das Hören schenken, sondern ihnen in der Folge auch ermöglichen, dass sie eine Lautsprache lernen. Dafür müssen sie laut Fachleuten bis zum Alter von fünf hören können.

Der 11-jährige Aissam aus Marokko wird also aller Voraussicht nach keine Lautsprache lernen. Er kann mittlerweile die spanische Gebärdensprache. Die anderen behandelten Kinder waren alle deutlich jünger, manche sogar weniger als zwei Jahre alt. Einige von ihnen haben nach der Gentherapie bereits begonnen, erste Worte wie Mama zu sagen, berichten die Forscher. Man kann sich das Glück der Eltern vorstellen.

Was sagen gehörlose Menschen zu der neuen Methode?

«Ich befürchte, dass die Gentherapie wegen der generell hohen Kosten dieser Methoden, und weil sie nur für einen Bruchteil aller gehörlosen Menschen infrage kommt, eine Nischenmethode bleiben wird», sagt der gehörlose Autor Wille Felix Zante. Eltern gehörloser Kinder dürften daher die Frühförderung ihrer Kinder nicht vernachlässigen, in der Hoffnung auf eine künftige Gentherapie.

Er findet es zudem problematisch, von Heilung zu reden. «Gehörlose Menschen sehen sich nicht als krank, sondern als sprachlich-kulturelle Minderheit mit einer eigenen Sprache, der Gebärdensprache.»

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