Mittwoch, März 12

Effizient, kostengünstig, strikt: Markus Kaufmann, Geschäftsführer der Konferenz für Sozialhilfe, hält ein Plädoyer für die Fürsorge. Ihre Ausgaben seien gesunken – und die Regeln strenger als bei den Ergänzungsleistungen.

Ein langjähriger Praktiker der Sozialhilfe, Urs Mühle, hat in der NZZ einen «Rückbau» der Fürsorge verlangt. Sie gehe zu stark über die Grundsicherung von Wohnen, Ernährung und Gesundheit hinaus, und die Konferenz für Sozialhilfe treibe diese Entwicklung weiter voran. Was entgegnen Sie, Herr Kaufmann?

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Die Analyse ist schlicht falsch. Das heutige System der Sozialhilfe ist in den 1990er Jahren entstanden, seither hat es keinen Ausbau gegeben. 1997 betrug der monatliche Grundbedarf 1110 Franken, heute ist er tiefer, obwohl die Lebenshaltungskosten gestiegen sind.

Die Sozialhilfe umfasst viele zusätzliche Leistungen neben dem Grundbedarf.

Das war schon damals so. Richtig ist, dass wir das System weiterentwickelt und an gesellschaftliche Realitäten angepasst haben. Aber von einem generellen Ausbau zu sprechen, ist einfach falsch. Man darf auch nicht vergessen, welche Rolle die Sozialhilfe spielt: Sie ist das letzte Netz des Sozialstaats, das halten muss, wenn alle anderen Versicherungen und Hilfen versagen. Diese Aufgabe kann sie nicht mehr wahrnehmen, wenn man die Leistungen auf das absolute Existenzminimum reduziert. Das ist breiter Konsens, alle Kantone tragen diesen Ansatz mit. Die Vorwürfe von Herrn Mühle stehen völlig quer in der Landschaft. Aber wissen Sie, was mich am meisten erstaunt?

Sagen Sie es.

Dass diese Kritik ausgerechnet jetzt kommt, wo die Sozialhilfe gerade bewiesen hat, wie erfolgreich sie ist. Schauen wir doch einfach auf die Zahlen: Während die Ausgaben praktisch überall massiv gestiegen sind, haben sie in der Sozialhilfe seit 2019 abgenommen. Der Anteil der Bezüger an der Bevölkerung beträgt zurzeit 2,8 Prozent – das ist die tiefste Quote seit 2005. Weder die Corona-Pandemie noch die Flüchtlingskrise von 2015 haben zur vielbeschworenen «Kostenexplosion» geführt. Wie man da noch behaupten kann, das System laufe aus dem Ruder, ist mir schleierhaft.

Profitiert die Sozialhilfe nicht einfach vom boomenden Arbeitsmarkt, und bei der nächsten Krise geht es wieder in die andere Richtung?

Das ist genau der Punkt: Das zeigt doch, dass das System funktioniert. Unsere Kritiker behaupten immer, die Sozialhilfe sei zu hoch, setze negative Arbeitsanreize, halte die Menschen davon ab, eine Stelle anzunehmen. Wenn das stimmen würde, hätten sich die Zahlen anders entwickelt. Dann hätten nicht so viele Bezüger – auch dank den verstärkten Integrationsbemühungen der Sozialdienste – den Sprung in die Unabhängigkeit geschafft. Zudem sind auch die Kosten pro Fall gesunken. Das zeigt, dass viele eine Arbeit gefunden haben, mit der sie aber noch nicht ganz ohne Sozialhilfe durchkommen. In diesen Fällen wird die Hilfe reduziert.

Bestreiten Sie, dass erwerbstätige Familien mit tiefen Löhnen oft weniger gut situiert sind als Familien, die von der Sozialhilfe leben?

Nein, aber das heisst nicht, dass die Sozialhilfe zu hoch ist. Es ist leider so, dass man in der Schweiz eine vierköpfige Familie mit einem 100-Prozent-Job in einer Tieflohnbranche nicht mehr ernähren kann. Es ist zynisch, solche Familien gegeneinander auszuspielen. Je nach Kanton können sie sich mit Prämienverbilligung, Familienzulagen oder Familien-Ergänzungsleistungen über Wasser halten. Wo das nicht möglich ist, muss die Sozialhilfe einspringen. Die Vorstellung, dass man die Leistungen kürzen muss, um mehr Leute in den Arbeitsmarkt zu bringen, ist weltfremd. Die meisten Menschen wollen eine Arbeit finden, auf eigenen Füssen stehen und sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft fühlen können. Gerade Liberale sollten vorsichtig sein mit Forderungen nach einem Rückbau der Sozialhilfe.

Wieso das?

Ich bin sicher, dass der liberale Arbeitsmarkt der Schweiz politisch massiv unter Druck kommt, sobald wir kein solides letztes Netz in Form einer ausgebauten Sozialhilfe mehr haben. Wenn das akute Armutsrisiko zunimmt, werden andere Themen wie Mindestlöhne oder Kündigungsschutz vermehrt aufs Tapet kommen.

Sie haben die Flüchtlingskrise erwähnt: Kritiker monieren, dass die Sozialhilfe gerade für Ausländer negative Anreize setzt, weil sie fast keine Chance haben, aus eigener Kraft gleich viel Geld zu verdienen. Was sagen Sie dazu?

Wenn das wahr wäre, hätten wir höhere Sozialhilfequoten. Seien wir realistisch: In der Schweiz ohne Ausbildung und Sprachkenntnisse Fuss zu fassen, ist schwierig. Die Lebenshaltungskosten sind sehr hoch, die Ansprüche des Arbeitsmarkts ebenfalls. Hier blind auf Eigenverantwortung zu pochen, ist naiv. Die erste Generation tut sich oft schwer, aber ihre Kinder und Enkel integrieren sich hierzulande erfolgreich. Beispielsweise die kosovarische oder die tamilische Community sind heute sehr präsent im Gesundheitswesen oder in der Finanzbranche. Dass die Integration in der Schweiz so gut läuft, ist der Volksschule und der Berufslehre zu verdanken, aber auch die Sozialhilfe leistet ihren Beitrag. Viele, die heute gut bezahlte Jobs haben, sind mit Sozialhilfe aufgewachsen.

Hilfswerke und linke Kreise sehen die sinkenden Sozialhilfe-Ausgaben als Problem: Viele Menschen würden keine Hilfe mehr holen, obwohl sie darauf angewiesen wären.

Tatsächlich stellen wir fest, dass sich vor allem ausländische Personen erst in grosser Not melden, aus Angst, die Aufenthaltsbewilligung zu verlieren. Das ist problematisch. Als während der Corona-Pandemie in Genf oder Zürich plötzlich Menschen stundenlang für Lebensmittel Schlange standen, hat man gesehen, wie wenig es braucht, damit Armut auch in der Schweiz sichtbar wird. Wenn die Wohnkosten weiter steigen, kann das zum Problem werden. In den grossen Städten gibt es Anzeichen für zunehmende Obdachlosigkeit, die wir ernst nehmen müssen.

Ist es Aufgabe des Staats, die Leute dazu zu bringen, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen?

Ich sehe das pragmatisch: Wenn die Leute zu lange warten, Betreibungen und Schulden anhäufen oder verwahrlosen, wird es schwieriger und teurer für alle. Wertvoll sind öffentliche Anlaufstellen, bei denen Betroffene anonym Rat holen können. Viele wissen nicht einmal, dass sie Prämienverbilligung beziehen können. Oft reicht das schon.

In der Sozialhilfe gilt heute die Devise der «sozialen Teilhabe». Was heisst das genau?

Dahinter steht die Überzeugung, dass es für die Gesellschaft als Ganzes besser ist, wenn Menschen in Not nicht an den Rand gedrängt werden, wenn sie ein würdiges Leben in der Mitte der Gesellschaft führen und möglichst schnell wieder unabhängig werden können. Sonst müssen wir auch hierzulande mit einer Ghettoisierung rechnen, mit der Entstehung von Armenvierteln, wie wir sie in Frankreich sehen. Deshalb bezahlt die Sozialhilfe im Einzelfall auch Ausgaben, die über die reine Grundsicherung hinausgehen: gelegentliche Fahrten im Bus oder Zug, ein Telefon, eine minimale digitale Kommunikation, Mitgliedschaften in Sportvereinen, Beiträge an Lager oder Geschenke.

Geschenke?

Wenn Kinder armer Familien nie an einem Geburtstagsfest teilnehmen können, weil sie kein Geld für kleine Geschenke haben, werden sie sich eher isolieren. Das grösste Armutsrisiko haben wir nach wie vor bei Familien. Zehntausende Kinder und Jugendliche leben in Haushalten mit Sozialhilfe. Wenn sie den Anschluss verlieren, werden sie nicht nur dem Arbeitsmarkt fehlen, es wächst auch das Risiko, dass sie auf die schiefe Bahn geraten.

Das klingt, als wäre dies alles nur die Aufgabe des Staates. Wo bleibt die Eigenverantwortung?

Sie ist wichtig und wird auch eingefordert. Die Sozialhilfe ist kein Selbstbedienungsladen. Wer nicht kooperiert, obwohl er dazu in der Lage wäre, erhält weniger Unterstützung. Das System ist restriktiv ausgestaltet. Aber die Unterstützung auf das nackte Existenzminimum herunterzufahren, wäre kontraproduktiv.

Finden Sie, die Leistungen der Sozialhilfe seien zu tief?

Unsere Referenzgrösse sind die 10 Prozent einkommensschwächsten Haushalte der Schweiz. Ihre Budgets werden regelmässig vom Bundesamt für Statistik erhoben. Wir bereinigen sie um Ausgaben für Autos, Ferien, Restaurantbesuche und weitere Posten. Was übrig bleibt, ist die Richtschnur der Sozialhilfe: Wer weniger verdient und kein Vermögen hat, erhält die Differenz vom Sozialdienst.

Sie haben die Frage nicht beantwortet.

Es entspricht dem politischen Konsens, dass die Leistungen der Sozialhilfe knapp bemessen sind. Sie liegen zum Beispiel deutlich unter den Ergänzungsleistungen (EL).

EL erhalten AHV- und IV-Rentner, die ihre Lebenshaltungskosten nicht aus eigener Kraft decken können. Fänden Sie es richtig, wenn Sozialhilfebezüger gleich hohe Leistungen erhielten?

Nein, aber es stört mich, wenn die Relationen verlorengehen. Die Sozialhilfe macht nur 1,6 Prozent aller Ausgaben für die soziale Sicherheit aus. Zurzeit sind es 2,5 Milliarden Franken im Jahr, bei den EL ist es mehr als das Doppelte. Immer wieder, leider auch im Interview von Herrn Mühle, wird der Eindruck erweckt, Sozialhilfebeziehende seien Faulpelze und Schmarotzer. Diese Stigmatisierung ist verheerend. Sie hält viele davon ab, rechtzeitig Hilfe zu holen.

Trotzdem kann man sich fragen, wie weit die Unterstützung durch die Allgemeinheit gehen muss und wo allenfalls auch die Familie helfen könnte.

Man muss sehen: Die meisten sind gerade deshalb in der Sozialhilfe, weil sie keine gut situierte Familie haben, die sie unterstützt. Die Unterstützungspflicht von Eltern, Verwandten im gleichen Haushalt und Konkubinatspartnern wird in der Sozialhilfe aber konsequent angerechnet. Diese Regeln sind viel strikter als zum Beispiel in der EL, dort wird das Konkubinat nicht berücksichtigt. Es übertragen auch viele ihre Liegenschaften frühzeitig an die Kinder, damit die EL dereinst die Kosten übernimmt, wenn sie in ein Pflegeheim müssen. Und hier sprechen wir über Gesellschaftsschichten, die deutlich besser gestellt sind als Sozialhilfebeziehende.

Würden Sie bei den Ergänzungsleistungen die Schraube anziehen?

Nein. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass wir bei Menschen, die wirklich in Not sind, keine strengeren Massstäbe anlegen sollten als bei allen anderen. Nicht nur, weil es moralisch fragwürdig wäre, sondern auch, weil es bei der Sozialhilfe um viel weniger Geld geht als beispielsweise bei den EL.

Zurzeit arbeiten Sie an einer Revision der Skos-Richtlinien. Unter anderem soll die Sozialhilfe künftig Jugendlichen, die es im Elternhaus nicht mehr aushalten, eine Wohnung finanzieren. Ist das wirklich nötig?

Zuerst möchte ich betonen, dass diese Revision entgegen den Vorwürfen von Herrn Mühle absolut transparent verläuft: Alle Unterlagen sind öffentlich, und die Kantone haben das letzte Wort. Sie werden auch entscheiden, ob man die Leistungen für Jugendliche ausbauen soll. Seit der Corona-Krise stellen wir fest, dass vermehrt junge Erwachsene psychisch erkranken. Das sorgt für hohe Kosten in der IV. Laut den Fachleuten wäre in solchen Fällen eine eigene Wohnung oft hilfreich. Ob die Mehrheit das will oder nicht, wird sich zeigen. Entschieden wird im Mai.

Haben Sie auch die Parteien zur Vernehmlassung eingeladen?

Nein. Da alle Unterlagen öffentlich einsehbar sind, können sie sich aber gerne einbringen. Wir sehen die Richtlinien als fachliches Thema und laden deshalb unsere Mitglieder, also Behörden und Fachgremien, zur Stellungnahme ein.

Ist die Ausgestaltung der Sozialhilfe wirklich nur eine fachliche Frage und nicht vielmehr eine hoch politische?

Doch, deshalb entscheidet am Ende die Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren über die Richtlinien. Sie alle sind vom Volk gewählt und sorgen damit für die politische Legitimation. Die Alternative zu diesem System wäre ein Bundesgesetz, das die Standards der Sozialhilfe definiert. Was hoffentlich niemand mehr will, ist ein Rückfall in frühere Zeiten ohne einheitliche Regeln, als Kantone und Gemeinden teilweise versuchten, sich gegenseitig zu unterbieten, um Bedürftige loszuwerden.

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