Der Grossvater des Tessiner Schriftstellers Fabio Andina hat 1944 italienischen Juden auf der Flucht in die Schweiz geholfen. Nun rekonstruiert der Autor die Geschichte in einem bewegenden, virtuos erzählten Roman.
Am 6. Mai 1945, zwei Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, befreien amerikanische Truppen das KZ Mauthausen bei Linz. Tags zuvor haben Spähtrupps das KZ gesichtet, das nach der Flucht der SS-Truppen noch vom Volkssturm und von der Wiener Feuerwehr bewacht wird. Rund 40 000 Häftlinge befinden sich zu diesem Zeitpunkt in dem Lager. Unter ihnen auch der italienische Schreiner Giuseppe Vaglio aus Cremenaga bei Varese.
Giuseppe hält sich an dem Tag mit einem weiteren italienischen Häftling im Sägewerk auf, wohin sie als Schreiner zur Zwangsarbeit verbracht worden sind. Als sie bemerken, dass die Wache abgezogen wurde, ergreifen sie die Flucht. Sie ahnen, dass amerikanische Truppen näher rücken, aber sie können nicht wissen, dass die Befreiung des Lagers unmittelbar bevorsteht. Haben sie eine Vorstellung davon, dass die Wehrmacht zusammenbricht? Vermutlich nicht. Sie wissen nur, dass sie in Österreich sind und frei. Und dass sie sich südwestwärts halten müssen, um nach Italien zu gelangen.
Verhaftet und verschleppt
Niemand weiss, wie und auf welchen Wegen Giuseppe nach Hause gekommen ist. Mutmasslich gingen er und sein Leidensgefährte den Weg zu Fuss. Siedlungen und Menschen mieden sie, und sie ernährten sich von dem, was sie fanden und fingen.
Fest steht nur, dass der damals 36-jährige Giuseppe einen Monat später im ehemaligen Durchgangslager Bozen registriert und ärztlich behandelt wurde und nach einem weiteren Monat, am 6. Juli 1945, in Cremenaga bei Frau und Kindern eintrifft. Sechzehn Monate sind seit dem Sonntag Anfang März 1944 vergangen, als Giuseppe um die Mittagszeit verhaftet und verschleppt wurde.
Nichts wusste seine Frau Concetta über sein Schicksal. Nur einmal hatte sie einen kleinen Brief von ihm erhalten. Darin schrieb Giuseppe, er sei dazu bestimmt, in Österreich zu arbeiten. Sie sollen beruhigt sein und nicht zu viel an ihn denken. Der Brief war von fremder Handschrift adressiert und in Modena aufgegeben worden, wohin Giuseppe nach einer Odyssee durch italienische Gefängnisse verschleppt worden war und von wo er drei Monate nach seiner Verhaftung nach Mauthausen deportiert wurde.
Von einem Dorfbewohner verraten
Der Tessiner Schriftsteller Fabio Andina ist der Enkel von Giuseppe Vaglio. Er hat die Geschichte seines Grossvaters mütterlicherseits rekonstruiert und erzählt sie in seinem Roman «Sechzehn Monate». Dabei stützt er sich zum einen auf die wenigen Dokumente, die in den italienischen Archiven überliefert sind; zum anderen stellt er mit den Mitteln der literarischen Erfindung dar, was er nur erahnen kann. Denn Giuseppe und Concetta haben ihr Leben lang über die Ereignisse geschwiegen.
Concetta wusste womöglich nichts Genaues über die Gründe für Giuseppes Verhaftung, sie wird dennoch geahnt haben, was er gelegentlich des Nachts tat. Als Fluchthelfer begleitete er jüdische Flüchtlinge über das unwegsame Gelände hinunter ins Tal der Tresa und über den Grenzfluss in die Schweiz.
Er wurde dabei nicht etwa von der SS ertappt, vielmehr soll er, wie es der Roman suggeriert, von einem Dorfbewohner an die Deutschen verraten worden sein. Dieser soll als vermeintlicher Fluchthelfer doppelt verdient haben: indem er den Flüchtlingen Geld abnahm und diese danach an die SS auslieferte und dafür ein zweites Mal kassierte. Da Giuseppe sich weigerte, an dem schmutzigen Geschäft teilzuhaben, musste er ausgeschaltet werden.
Virtuoser Erzähler
Der 1972 in Lugano geborene Fabio Andina ist 2020 mit seinem fabelhaften und inzwischen in zahlreiche Sprachen übersetzten Roman «Tage mit Felice» wie aus dem Nichts hervorgetreten. Seither hat er mit jedem neuen Buch seine enorme Begabung und Vielseitigkeit gezeigt: von den lyrischen Notaten in «Tessiner Horizonte» über die Kunst des inneren Monologs eines krisengeschüttelten Mannes in «Davonkommen» und nun abermals in «Sechzehn Monate». Für jeden Stoff findet Andina seinen eigenen Ton, für jedes Buch eine angemessene Erzählweise.
Fabio Andina weiss, dass er die Geschichte seines Grossvaters, die er weitgehend nacherfindet, nicht in ausschmückenden Details erzählen kann. Und trotzdem muss er sie anschaulich machen, er muss Giuseppe begleiten auf seinen Wegen als Fluchthelfer, er zeigt ihn im Augenblick der Verhaftung und auf den Stationen durch die Gefängnisse der SS mit ihren Verhören, er folgt ihm auf dem Transport nach Mauthausen und später auf dem langen Weg zurück nach Italien.
Parallel muss er die Ereignisse in Cremenaga schildern, die Erschütterung im Dorf und in Giuseppes Familie, die zunehmende Brutalität der Wehrmacht, die das Dorf in Grenznähe auflöst und die Bewohner auf eine entferntere Alp umsiedelt. Und er vermittelt Eindrücke von Concettas Verzweiflung angesichts der Ungewissheit, ob ihr Mann noch lebt und ob sie sich je wiedersehen werden.
Wechselnde Perspektiven
Andina meistert die Schwierigkeiten auf eine paradoxe Weise: indem er, wo es geht, den Blick weglenkt von Giuseppe und vielmehr darstellt, was um ihn herum geschieht. So schildert er die Verhaftung aus dem Blickwinkel von Concetta und zeigt in ihrem Gesicht Fassungslosigkeit und Angst. In den Haftzellen oder auf den Gefangenentransporten steht nicht im Mittelpunkt, was Giuseppe widerfährt, sondern was er sieht: terrorisierte Menschen oder die Erschiessung eines Häftlings. Und die Schilderung des langen Fussmarsches zurück nach Italien ist dort am intensivsten, wo Giuseppe seinen erschöpften Gefährten in den Tod begleitet und ihn notdürftig bestattet.
Die sechzehn Monate dieses Martyriums werden abwechselnd aus Concettas Blickwinkel in Cremenaga und aus Giuseppes Perspektive in der Haft und auf der Flucht nach Hause gezeigt. Dazwischen schiebt Andina fiktive Briefe, in denen die Eheleute einander von ihrer Verzweiflung und nie erlöschender Hoffnung schreiben.
So ergibt sich aus dem Nebeneinander von Schauplätzen und Sprechweisen eine vielfach gebrochene Geschichte, die Karin Diemerling souverän und mit präziser Diktion ins Deutsche übersetzt. Dass der Roman etwas Unmögliches versucht, schwingt dabei im Hintergrund stets mit: Das Schweigen der Grosseltern soll durchbrochen werden, damit die erzählerische Imagination an jenes Verborgene rührt, wovon Concetta und Giuseppe zu erzählen sich verboten hatten.
Andina schreibt, ohne das Grauen auszustellen, behutsam und doch bewegend, respektvoll zurückhaltend vor dem, was die beiden erlitten haben. War es so? Oder geschah doch alles ganz anders? Keiner weiss es, es ist auch einerlei, denn die Wahrheit liegt hier allein in der poetischen Imaginationskraft der Erzählung.
Fabio Andina: Sechzehn Monate. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Diemerling. Rotpunkt-Verlag, Zürich 2025. 216 S., Fr. 31.90.