Freitag, September 27

Im Donbass ist die militärische Lage für die Ukrainer alarmierend. Mit der Stadt Wuhledar drohen sie die Kontrolle über ein grosses Gebiet zu verlieren. Das wäre nicht nur eine militärische Niederlage.

Ukrainische Militärbeobachter neigen nicht zu Alarmismus. Doch wenn es um Wuhledar geht, rechnen ihre wichtigsten Exponenten mit dem Schlimmsten: Die Russen seien dabei, die Kleinstadt einzukesseln, «sie machen sie mit Artillerie und Gleitbomben dem Erdboden gleich», schreibt der Kanal Deep State. Ein ehemaliger Offizier mit dem Pseudonym Tatarigami sieht «die letzte Phase der Verteidigung» gekommen. Er hoffe, die Armeeführung treffe rasch die richtige Entscheidung und hole die Soldaten heraus.

In den letzten Tagen sind die russischen Streitkräfte von drei Seiten in die Ortschaft am südöstlichen Zipfel des ukrainisch kontrollierten Donbass eingedrungen. Da die Kohlestadt Wuhledar stark befestigt ist, wäre dies noch nicht unbedingt fatal. Schlimmer für die Verteidiger ist, dass die feindlichen Truppen auch an den Flanken vorrücken. Die wichtigsten Versorgungsrouten sind entweder gekappt oder stehen unter russischem Beschuss. Ein Rückzug scheint nur noch eine Frage der Zeit.

Zähe ukrainische Verteidigung

31 Monate lang hatten die Brigaden in Wuhledar alle russischen Angriffe abgewehrt. Sie nutzten die erhöhte Lage der Ortschaft, um jede Bewegung im topfebenen Umland zu überwachen und den Feind zu beschiessen. Die Belagerung kostete die Russen nicht nur Tausende von Soldaten und Hunderte von Fahrzeugen. Von ihrer Bastion aus konnten die Ukrainer auch wichtige Eisenbahnlinien zur Versorgung der besetzten Gebiete im Süden und auf der Krim ins Visier nehmen.

Entsprechend wichtig war es für die Russen seit Beginn der Invasion im Februar 2022, die Stadt zu erobern. Dabei kamen sie Wuhledar schon früh sehr nahe. Weiter als einige Kilometer entfernt lag die Front seit dem Frühling 2022 nie. Dennoch gelang es Kiew damals, den Feind etwas zurückzuwerfen und die Linien zu stabilisieren.

Im Herbst 2022 erhöhten die Russen den Druck wieder. Sie rückten von Süden her vor und nahmen Wuhledar unter Feuer. Die meisten der einst knapp 15 000 Einwohner flohen, als der Artilleriebeschuss ihre Häuser zerstörte. Die Versorgung mit Wärme, Strom und Wasser fiel aus, während die kalten Wintertage begannen.

Der Sturm auf Wuhledar begann im Januar 2023. Drei Wochen lang rannten Tausende von russischen Soldaten an, Hunderte verloren ihr Leben. Die Fahrzeuge der Angreifer, unter ihnen die prestigeträchtige 155. Marineinfanterie-Brigade, fuhren auf Landminen auf, andere wurden mit Artillerie und Drohnen zerstört. Auf dem Höhepunkt der Kämpfe im Februar verloren die Russen laut der Analysegruppe Oryx 103 Panzerfahrzeuge in drei Tagen. Von einer «epischen Schlacht» schrieb damals die «New York Times».

Während die Donbass-Stadt Bachmut im Mai 2023 fiel, widerstanden die 72. Mechanisierte Brigade und die 68. Jäger-Brigade in Wuhledar der russischen Frühjahrsoffensive. Die demütigende Niederlage kostete einen von Moskaus führenden Generälen, Rustam Muradow, seinen Posten als Kommandant des östlichen Militärbezirks.

Schwerer Rückschlag für Russland

Die Verluste bedeuteten auch, dass die Angriffskraft der Russen im Donbass über Monate geschwächt war. Rund um Wuhledar und den Nachbarort Welika Nowosilka machten die Ukrainer während der gescheiterten Gegenoffensive vom Sommer letzten Jahres sogar Gebietsgewinne. Gefährlich blieb die Stadt dennoch: Ein Gesuch der NZZ, Wuhledar zu besuchen, lehnte die Armee bereits damals ab. Die Zufahrtswege im flachen Gelände waren zu exponiert.

Nachdem Russland seine Verluste ersetzt hatte, begannen die Angriffe im Frühjahr 2024 erneut. Der Fall der Festungsstadt Awdijiwka, gut fünfzig Kilometer nordöstlich von Wuhledar, machte Kräfte frei für eine Offensive weiter südlich. Der Hauptstoss erfolgte zunächst während mehrerer Monate in Richtung Pokrowsk, des wichtigsten Verkehrsknotenpunkts und des wirtschaftlichen Zentrums der Gegend. Doch jüngst verlagerten die Russen ihre Attacken weiter südlich, auch gegen Wuhledar.

Im Sommer scheiterten die Aggressoren noch spektakulär mit mehreren Sturmangriffen. Im Juni und Juli vernichteten die Ukrainer in der Umgebung von Wuhledar mehrmals Dutzende von gepanzerten Fahrzeugen und töteten Hunderte von Soldaten. Doch Mitte Sommer änderte der Feind laut ukrainischen Kämpfern die Taktik: Er gab die direkten Attacken in grossen Gruppen auf zugunsten von Angriffen mit kleineren, mobilen Einheiten.

Obschon die Truppen Moskaus seit August immer näher an Wuhledar heranrückten, versuchen sie gegenwärtig nicht, die Stadt direkt zu erstürmen. Stattdessen umgehen sie die Verteidiger und greifen deren Flanken im Nordosten und Nordwesten an. Das flache Terrain wird nun zum Nachteil für die Ukrainer, da es kaum natürliche Hindernisse gibt.

Zunehmend wird aber auch klar, welchen Tribut der Abnützungskrieg gefordert hat. Von den beiden wichtigsten Einheiten in Wuhledar ist nur noch die 72. Brigade einigermassen intakt. Die 68. Jäger-Brigade erlitt so starke Verluste, dass sie laut der Zeitung «Financial Times» aufgelöst wurde. Der Abzug ukrainischer Truppen aus dem Donbass, um den Einmarsch nach Kursk zu verstärken, schwächte die Front zusätzlich.

Russlands Übermacht im südöstlichen Donbass

Die erschöpften Soldaten versuchen nun, sich Russlands Übermacht an Truppen, Artillerie und Bomben aus der Luft zu erwehren. Seit die Angreifer Mitte Woche in die Stadt eingedrungen sind, haben Häuserkämpfe begonnen. Noch befänden sich 100 Zivilisten in Wuhledar, heisst es von der Donezker Militäradministration. Sie könnten aber nicht mehr versorgt werden. Die Verteidiger kämpften weiter und hätten bereits «eine riesige Menge an Armeematerial» des Gegners zerstört.

Wie lange die Ukrainer unter diesen Umständen um Wuhledar kämpfen wollen und können, ist umstritten. Manche Beobachter glauben, der Abzug der 72. Brigade habe bereits begonnen. Andere halten es für durchaus möglich, dass die Festungsstadt einige Zeit gehalten werden kann. Dazu kommt die offene Frage, ob die Führung in Kiew bereit ist, die politische Verantwortung für einen Rückzugsbefehl zu übernehmen. In Bachmut und Awdijiwka wartete sie damit sehr lange, während sich die Bedingungen zusehends verschlechterten. Dies trieb die eigenen Verluste zusätzlich in die Höhe.

Zweifellos wäre der Verlust Wuhledars ein grosser militärischer Rückschlag. Die Stadt deckte bisher den gesamten südöstlichen Donbass und auch die Stadt Pokrowsk. Ausserdem droht sich nun die Erfahrung nach dem Fall von Awdijiwka zu wiederholen, als die Verteidigungslinien im offenen Feld dahinter nicht hielten. Wie stark die seit Oktober 2023 erbaute «Süd-Donezk-Linie» bei Wuhledar ist, muss sich erst weisen. Manche Ukrainer hoffen darauf, dass der bald einsetzende Herbstregen Russlands Vormarsch über offenes Gelände abbremst.

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