Mitten im dramatischen Zollstreit mit den USA wählen die Liberalen den ehemaligen Zentralbankchef zum Parteivorsitzenden und Nachfolger von Premierminister Trudeau. Wegen der Aggressionen Washingtons erlebt die Partei gegenwärtig einen rasanten Aufschwung.

Gleich in seiner ersten Rede hat Mark Carney signalisiert, dass er gegenüber den USA standhaft bleiben wird. «Wir haben diesen Kampf nicht gesucht», sagte er nach seiner Wahl zum neuen Vorsitzenden der Liberalen Partei. «Aber die Kanadier sind immer bereit, wenn jemand sie herausfordert.»

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Bis vor kurzem galt Carney als farbloser Finanztechnokrat. Aber nun wählten ihn die Mitglieder der Liberalen Partei am Samstag mit überwältigenden 86 Prozent zum neuen Vorsitzenden, womit er auch automatisch den zurückgetretenen Justin Trudeau als Premierminister ersetzt. Eine Welle von neuer Hoffnung geht durch das verzagte Land.

Trump als Glücksfall für die Liberalen

Es klingt paradox, ist aber wahr: Den kanadischen Liberalen konnte nichts Besseres passieren als Trump. Zwar kann man sich kaum gegensätzlichere Männer vorstellen als den Noch-Premierminister Justin Trudeau und den amerikanischen Präsidenten, aber nun erlebt die Regierungspartei ausgerechnet wegen der Angriffe aus Washington ein Comeback, das niemand für möglich gehalten hätte. Vor zwei Monaten erreichten die Liberalen noch eine Zustimmungsrate von weniger als 20 Prozent, während die Konservativen auf mehr als 40 Prozent kamen. Es war vor allem dieser Popularitätssinkflug, der zu Trudeaus Rücktritt im Januar führte. Am Sonntag kürten die Liberalen Mark Carney nun zu ihrem neuen Parteichef und damit auch zum neuen Premierminister – zumindest bis zu den Neuwahlen, die spätestens am 20. Oktober stattfinden, aber vermutlich schon viel früher.

Laut jüngsten Umfragen hat sich das Mehrheitsverhältnis zwischen den beiden grössten Parteien Kanadas knapp umgekehrt: 38 Prozent der Kanadier bekennen sich gegenwärtig zu den Liberalen, nur noch 36 Prozent zu den Konservativen. Laut Meinungsforschern ist dies der grösste Umschwung in so kurzer Zeit, den das Land in den letzten dreissig Jahren erlebt hat. Er hat zwei Gründe: erstens der Rücktritt des unpopulären Trudeau und zweitens die Druckversuche Trumps mit massiven Zöllen, aber auch Demütigungen, indem er Kanada als 51. Gliedstaat der USA und Trudeau als Gouverneur bezeichnete, so als würde dieser nicht einem souveränen Land, sondern einem amerikanischen Gliedstaat vorstehen.

Poilievre wird die Nähe zu Trump zum Verhängnis

Diese Angriffe erwiesen sich für die kanadischen Konservativen, dessen Parteichef Pierre Poilievre oft mit Trump verglichen wird, als fatal. Auch er schimpft gerne gegen die «Woken», «Fake News» sowie «irre Linke» und profilierte sich vor allem mit seiner Opposition gegen Trudeaus Kohlenstoffsteuer. Ähnlich wie Trump unterstützte er die Trucker-Proteste, die Anfang 2022 wochenlang die Hauptstadt Ottawa lahmlegten. Wahrscheinlich ist Poilievre kein Trumpist, aber gewisse Überschneidungen, auch wenn sie nur rhetorischer Art sind, werden ihm nun zum Verhängnis und von den Gegnern erbarmungslos ausgeschlachtet. Die Zeichen stehen auf Härte gegenüber Trump, und man traut sie Poilievre nicht zu.

In den kanadischen Medien läuft derzeit ein Spot, in dem fast identische Zitate von Poilievre und Trump direkt hintereinander geschnitten sind. «Poilievre = Trump» lautet die Botschaft. Die Kampagne mit dem Titel «Made in America» mag polemisch sein, trifft aber Poilievres wunden Punkt. So malt er sein Land, ähnlich wie Trump, in den düstersten Farben und beschwört bei jeder Gelegenheit die nationale Apokalypse herauf. Gegenwärtig geht jedoch angesichts von Trumps Demütigungen eine Welle von trotzigem Patriotismus durch das Land, und Poilievre steht auf einmal als Nestbeschmutzer da.

Carney hingegen traut man den Gang in die Arena zu. Der 59-Jährige war von 2008 bis 2013 Chef der kanadischen und anschliessend bis 2020 der englischen Notenbank. Er ist krisenerprobt. Die kanadische Zentralbank führte er erfolgreich durch die Turbulenzen der Finanzkrise. Die Bank of England manövrierte er durch die schwierige Brexit-Zeit, wobei er notabene der erste Ausländer war, der die altehrwürdige Institution seit ihrer Gründung im 17. Jahrhundert führte. 2024 übernahm er den Vorsitz der Task-Force für Wirtschaftswachstum innerhalb der Liberalen Partei. Er ist ein Quereinsteiger in die Politik und einer breiteren Öffentlichkeit bis jetzt kaum bekannt. Aber die wirtschaftliche und finanzpolitische Kompetenz des Harvard- und Oxford-Absolventen ist unbestritten. Und die braucht es im Moment, denn im Zollstreit mit den USA kommen gewaltige ökonomische Probleme auf das Land zu. Werden die 25-Prozent-Zölle umgesetzt, drohen Fabrikschliessungen, Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit. Zudem hat Trump nun auch noch enorme Zölle auf Milch und Holz angekündigt.

Carneys Distanz zu Trudeau wird zum Trumpf

Carneys Nachteil – dass er kaum politische Erfahrung hat – ist momentan auch ein Vorteil. Er ist einer der wenigen namhaften Liberalen im Land, die nichts mit dem unpopulären Trudeau zu tun hatten. Im Gegenteil: Er kritisierte dessen Wirtschaftspolitik wiederholt als verschwenderisch. Das hebt ihn von Chrystia Freeland ab, die sich ebenfalls um die Parteiführung bewarb. Sie war Trudeaus Finanzministerin und schliesslich sogar Vizepremierministerin. Im Januar trat sie überraschend zurück. Sie hatte von Trudeau im Zollkonflikt offenbar ein resoluteres Vorgehen gegen Trump erwartet. Ihre Entscheidung war ebenfalls ein Grund für den Rücktritt des Premierministers kurz darauf. Aber trotz diesem finalen Konflikt wird sie von der Bevölkerung mit Trudeau in Verbindung gebracht, der bei seiner Wahl im Jahr 2015 als charismatischer Sonnyboy startete, dessen Stern nun jedoch seit längerem sank.

Ideale Zeiten für jemanden wie Carney, der während Trudeaus Amtszeit jahrelang im fernen London weilte und auch ein ganz anderes Profil als der routinierte Berufspolitiker Poilievre hat. Über den äusserte er sich am Fernsehen unmissverständlich: «Wer ist am schlechtesten geeignet, Donald Trump entgegenzutreten?», fragte er rhetorisch. «Es ist Pierre Poilievre. Er betet Trump an und spricht wie Trump. Das ist nicht die richtige Person für unser Land in dieser kritischen Zeit.»

Carney lässt sich nicht auf einfache Ideologien festlegen

Carney spricht auch viele Mitte-Wähler an, weil er unideologisch argumentiert und oft überrascht mit seinen Ansichten. So äusserte er – als Banker – schon früh Verständnis für die «Occupy Wall Street»-Proteste und wies auf den sozialen Sprengstoff in der zunehmenden Arm-Reich-Schere hin. Zugleich ist er einer, der stets für eine sparsame Haushaltspolitik plädiert. Vor und während des Brexits prognostizierte er massive negative Folgen für die britische Wirtschaft, was ihm in England heftige Feindschaften eintrug. Er plädiert für eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben; zugleich warnt er seit langem vor dem Klimawandel, tritt aber dafür ein, nicht so sehr die einfachen Konsumenten, beispielsweise mit einer CO2-Steuer, sondern die Ölindustrie zur Rechenschaft zu ziehen. Ein Thema, das er in Reden immer wieder anschneidet, ist die Dominanz der Finanzwerte über die menschlichen Werte; seiner Ansicht nach sind wir von einer Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft geworden.

Vorerst zieht aber ein einziges Thema nicht nur die nationale, sondern auch die internationale Aufmerksamkeit auf sich: der Konflikt mit den USA. Gegenüber Washington signalisiert Carney schon jetzt Härte; zugleich sucht er eine engere Zusammenarbeit mit Europa und Asien, um die Handelsabhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu verringern. Bereits sprechen Medien davon, dass Kanada zu einem Modell für den Umgang mit den USA unter Trump werden könnte.

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