Das Gefängnis Zürich West kämpft seit der Eröffnung mit einem schlechten Ruf.
Der Insasse von Zelle «I. 164» ist unruhig. Seit einem halben Jahr trinkt er. Jeden Tag. Einen Liter Schnaps. Und dann wird er gewalttätig. Die Polizei kommt und liefert ihn im Gefängnis Zürich West ab. Aufseher Ziesche tritt in die Zelle, vor dem Eingang postiert sich sein junger Kollege Martinez. Zur Sicherheit, falls einer ausrastet.
Auf Ziesches Namensschild steht «Aufseher/Betreuer». Er ist 35 Jahre alt, trägt kurze, helle Haare, ein blaues Shirt, das über dem Bizeps spannt. Tätowierungen zieren seine Unterarme.
Sein Credo: Immer Respekt zeigen. Immer ruhig bleiben.
«Monsieur, wie geht es Ihnen?», fragt Ziesche. «Ist Ihnen schlecht?»
Der Mann antwortet mit heiserer Stimme. «J’ai besoin des médicaments.» – «Trinken Sie etwas, ich rufe den Gesundheitsdienst», antwortet der Aufseher und reicht ihm einen Becher mit Wasser. Kurz darauf bekommt der Insasse Tabletten gegen die Übelkeit und die Entzugserscheinungen.
Ziesche ist seit rund einem Jahr in Zürich West, einem der modernsten Gefängnisse des Landes. Er arbeitet in einem Koloss mit scheinbar endlosen Gängen aus grauem Sichtbeton. Untersuchungshäftlinge und vorläufig Festgenommene sind hier untergebracht.
Vorläufige Festnahme – so nennt sich die Phase der ersten 96 Stunden ab dem Zeitpunkt einer Verhaftung. Es ist die Abteilung, in der Ziesche arbeitet.
Tag für Tag begegnet er Menschen im Ausnahmezustand. Mal sind sie unter Drogen oder betrunken, mal verwahrlost, psychotisch, aggressiv oder verwirrt, mal apathisch, verzweifelt oder in sich gekehrt. Ziesche ist deshalb nicht nur Aufseher und Betreuer, sondern manchmal auch Krisenmanager und Sozialarbeiter.
Er sagt: «Es ist der stressigste Job im ganzen Gefängnis. Aber das gefällt mir, denn ich kenne die Menschen.»
Fast alle Verhafteten im Kanton Zürich müssen an diesem Ort durch: egal ob Männer, Frauen mit Babys oder Jugendliche, Ausländer oder Schweizer. Mutmassliche Mörder, Schläger, Betrüger, Einbrecher. Oder Männer, die Ziesche «unsere VIP-Gäste» nennt – weil sie immer wieder inhaftiert werden. Manche haben auch bloss eine Busse nicht bezahlen können.
Keiner von ihnen ist von einem Gericht verurteilt, aber alle stehen unter Verdacht. «Wenn sie zu uns kommen, sind sie alle noch unschuldig», sagt Ziesche. Er betrachte die neuen Häftlinge deshalb immer als Menschen, und nicht als Täter.
Registration, ein paar Fragen und dann in die Zelle
Wenn Ziesche und sein Kollege Martinez die Neuankömmlinge abholen, dann prüfen sie zuerst die Lage. Ziesche sagt: «Man kann sehen und riechen, wie einer drauf ist.»
Für alle gilt dasselbe Prozedere: Registration, Wartezelle, drei Standardfragen zu Religion, Allergien beim Essen und Zigarettenkonsum, dann müssen die neuen Insassen ihre Kleidung gegen eine Jogginghose, ein Unterhemd und einen grauen Pulli tauschen. Sie werden einer Leibesvisitation unterzogen und mit dem Metalldetektor kontrolliert, daraufhin geht es in eine Eintrittszelle und schliesslich in die vorläufige Festnahme.
170 von 241 Zellenplätzen sind in dieser Nacht Ende Januar besetzt. Und mit allen Insassen müssen Ziesche und seine Kollegen klarkommen. Irgendwie.
Vor 18 Jahren ist er aus Deutschland in die Schweiz gezogen. Und hat immer in der Sicherheitsbranche gearbeitet. Er war schon Security im Fussballstadion Letzigrund, in der Migros beim Zürcher Hauptbahnhof und in der grössten Justizvollzugsanstalt des Landes, der Pöschwies.
Nun ist er im Gefängnis Zürich West und sagt: «In den ersten Tagen ist der Haftschock am grössten. Wir sagen den Insassen deshalb immer, dass wir ihnen helfen wollen. Sie müssen aber mitmachen.»
Wie der junge Afghane, der am frühen Abend von Polizisten ins Gebäude geführt wird. Als ihn die Aufseher zur Zelle führen, erzählt er von seinem Problem. Er konnte das Geld für eine Busse nicht aufbringen. Er sagt zu Ziesche: «Ich kann schon zahlen, aber ich brauche noch ein bisschen Zeit. Bitte, ich muss raus. Ich muss morgen arbeiten.»
Ziesche verspricht ihm, sein Anliegen abzuklären.
So ist es nicht immer. Denn oft kommt es zu Gewaltausbrüchen an dem Ort, an dem der gefährlichste Teil der Bevölkerung untergebracht ist. Ziesche sagt, es seien immer wieder die gleichen Dinge, die zu Streit und Gewalt führten: das Essen und der Zellengenosse. Einmal habe einer seinen Mitinsassen verprügeln wollen, weil er nicht habe schlafen können.
Mit Gewalt haben auch die Aufseher zu kämpfen. Kurz vor Weihnachten, es ist Ziesches gefährlichster Moment im Gefängnis. Er hat gerade Dienst, als der Gesundheitsdienst des Gefängnisses den Alarm auslöst. Der Aufseher eilt in eines der oberen Stockwerke, wo sich die Untersuchungshäftlinge befinden. Einer der Insassen hat ein selbst gebasteltes Plastikmesser in der Hand und fuchtelt damit herum.
Ziesche und seine Leute schliessen die Tür zum Raum und versuchen, den Häftling von draussen zu beruhigen. Erst als dieser langsam ruhiger wird, gehen sie hinein.
Trotz all der Gewalt gibt es Lichtblicke, etwa Zeichen der Dankbarkeit. Manche schreiben dann Briefe. Einer davon hängt im Pausenraum der Betreuer: «Mit einem lachenden und einem weinenden Auge habe ich diesen Bau verlassen. Menschlich, nett und mit einer gewissen Strenge.»
«Wir haben kein Problemgefängnis»
Seit das Gefängnis Zürich West 2022 in Betrieb ist, steht es in den Schlagzeilen, meist negativ. Die Medien schreiben von «chaotischen Zuständen» und von einem «Problemgefängnis». Das hat seine Gründe: Die Planer verkalkulierten sich beim Personal derart massiv, dass der Regierungsrat 82 zusätzliche Stellen bewilligen musste. Das Wachpersonal entliess vier Inhaftierte irrtümlich aus der Polizeihaft. Zudem sorgte der Abgang der Gefängnisleitung für Nebengeräusche.
Und schliesslich war das Gefängnis im letzten Frühling wochenlang überbelegt. Anwälte sprachen von einem «perfekten Sturm», die Institution sei am Anschlag, die Insassen müssten tagelang dieselbe Kleidung tragen und 23 Stunden am Tag in ihrer Zelle verbringen. Und das Personal beklagte sich über Sicherheits- und Gewaltprobleme.
Nathalie Dorn, die Direktorin der Zürcher Untersuchungsgefängnisse, wehrt sich gegen diese Darstellung. «Wir sind kein Problemgefängnis. Im Gegenteil: Inzwischen ist das Gefängnis Zürich West ein sehr gut funktionierender Betrieb, der auch Situationen der schweizweiten Überlastung wie im letzten Frühling tragen kann.» Es sei nicht mehr aus der Zürcher Justizlandschaft wegzudenken.
Natürlich gebe es noch immer Verbesserungspotenzial, so wie es bei einer jungen Institution normal sei. «Die sogenannte Polizeihaft ist die hektischste Haftform, mit Ein- und Austritten rund um die Uhr und einem personalintensiven 24-Stunden-Betrieb. Wir müssen diesen hohen Anforderungen gerecht werden. Aber wir sind auf einem sehr guten Weg hin zu einem Vorzeigebetrieb.»
Dorn verweist auf die Zahlen: Der Umgang mit Krisen und Vorfällen habe sich verbessert, die Personalfluktuation sei gesunken. Waren es im ersten Halbjahr 2023 15 Wechsel, gab es im ersten Halbjahr 2024 noch 10. Inzwischen bewege man sich vermutlich in einem ähnlichen Rahmen wie Spitäler, Rettungsdienste und andere 24-Stunden-Betriebe, sagt Dorn. «Die Situation hat sich klar beruhigt.»
Der Häftlingsstrom in der Nacht
Um 22 Uhr ist Ziesches Schicht zu Ende. Per Handschlag verabschiedet er sich von seinem Kollegen Giffhorn, der als Teamleiter die Nachtschicht übernimmt. Bis 7 Uhr 30 am Morgen sind nun Giffhorn und seine Kolleginnen und Kollegen für den Empfang neuer Häftlinge zuständig.
Giffhorn, 38-jährig, war früher Automechaniker und hat einen Betrieb für Fahrzeugbau geleitet. Mehr Maschinen als Menschen. Er habe aber immer mal in einem Gefängnis arbeiten wollen – im gleichen Job wie seine Lebenspartnerin. «Doch dann wurde ich Vater. Und die Arbeit im Schichtbetrieb verträgt sich schlecht mit dem Familienleben.»
Trotzdem ist Giffhorn seit 2022 hier, im Gefängnis Zürich West. Und inzwischen, nach weniger als drei Jahren, einer der erfahrensten Mitarbeiter. «Heute ist es relativ ruhig», sagt er während einer kurzen Teambesprechung. «Der Bodypacker ist noch im Spital, laut den Ärzten hat er aber keine Fingerlinge mehr im Körper. Er kommt Morgen zurück. Seine Zelle ist schon reserviert.»
Dann kommt er zum Insassen aus Zelle H. 112. Giffhorn sagt zu seinen Leuten: «Er ist bekannt. Geht nicht alleine hin. Er will euch zwar nicht absichtlich verletzen, aber er hat Angstzustände. Also seid vorsichtig.»
Auffällig sei auch der Mann, der wegen vorsätzlicher Tötung sitze. Giffhorn sagt: «Er behauptet, dass er kein Messer und keine Gabel zum Essen bekommen habe.» Im Moment könne man ihm aber nichts geben, weil man nicht wisse, ob er etwas verstecke. «Wir schauen morgen früh.»
Dann beginnt die Schicht mit den unfreiwilligen Gästen der Nacht.
22 Uhr 28: An einem Zellenfenster in der Abteilung für weibliche Inhaftierte geht der Alarm los. Als Giffhorn und eine Kollegin kurz darauf das Licht in der Zelle einschalten und die Türe öffnen, blickt ihnen eine schlaftrunkene Frau entgegen. Fehlalarm.
23 Uhr 15: Das Mitglied eines mutmasslichen Einbrecher-Trios aus Kroatien trifft ein.
23 Uhr 38: Die Polizisten bringen den Komplizen des Einbrechers. Er darf auf keinen Fall mit seinem Kumpan in Kontakt kommen, weil sie sich sonst absprechen könnten. Ihm wird eine Zelle in einem anderen Trakt zugewiesen.
23 Uhr 49: Ein bärtiger Mann mit zotteligem, verfilztem Haar und glasigem Blick trifft ein. Er schwankt durch die Kontrolle.
0 Uhr 5: Ein muskulöser Mann in Trainerhosen und T-Shirt kommt nach einer zehnstündigen Einvernahme bei der Staatsanwaltschaft zurück ins Gefängnis. Er sitzt seit rund vier Monaten wegen Erpressung in Untersuchungshaft. Für die Mitarbeiter ist er ein alter Bekannter, mal freundlich, mal aufbrausend. «Wie ist er heute drauf?», fragt die Mitarbeiterin am Empfang. Der Polizist antwortet: «Heute gut». Das hat einen Grund, wie Giffhorn kurz darauf erfährt: Der Mann dürfte in den nächsten Tagen entlassen werden.
0 Uhr 25: Ein junger Mann, der zusammen mit zwei Komplizen mit Kokain gehandelt haben soll, wird vorgeführt.
Dreissig bis vierzig neue Häftlinge sind es jeden Tag. Ebenso viele verlassen das Gebäude wieder – oder werden vom Zwangsmassnahmengericht in Untersuchungshaft versetzt.
Was zurückbleibt, sind ihre Geschichten. Sie gingen ihm manchmal nahe, sagt Giffhorn. Vor allem dann, wenn er von der Not der Inhaftierten höre. Besonders in Erinnerung ist ihm die Geschichte einer jungen Drogenschmugglerin aus Brasilien geblieben, deren Familie von den Kartellen Todesdrohungen erhielt. Bloss deshalb, weil sie es nicht schaffte, die Kokain-Fingerlinge abzuliefern.
In so einem Moment sei es entscheidend, da zu sein und zuzuhören. «Es ist wichtig, dass man die Insassen spürt.»
Und so marschieren Giffhorn und Ziesche Arbeitstag für Arbeitstag durch die enge Schleuse des riesigen Betonblocks in Zürich West. Sie schliessen ihre Handys ein, schlüpfen in die blaue Uniform und schnallen den Gurt mit dem Funk und den Handschuhen um.
Dann verbringen sie eine Schicht mit mutmasslichen Räubern, jugendlichen Schlägern, Drogendealern und Mördern.