Nach einem mutmasslichen Raketenangriff des Hizbullah auf ein Drusendorf in den besetzten Golanhöhen hat Israel Vergeltung angekündigt. Wann und in welchem Umfang sie stattfinden wird, ist unklar.
Die Stimmung in Beirut an diesem Montagmorgen gleicht der Ruhe vor dem Sturm. Zwar staut sich auf den Strassen der libanesischen Hauptstadt der Verkehr wie immer. Doch am Flughafen hat die nationale Fluggesellschaft vorsorglich bereits mehrere Flüge gestrichen. Internationale Gesellschaften zogen sogleich nach und strichen Beirut vorläufig ebenfalls aus ihren Flugplänen.
Nun harrt die Stadt der Dinge, die da kommen werden. Denn Israels Regierung hat schnell klargemacht, dass sie auf den mutmasslichen Hizbullah-Angriff in Majdal Shams mit aller Härte reagieren wird. In dem Drusendorf in den israelisch besetzten und 1981 annektierten Golanhöhen waren bei einem Raketeneinschlag am Samstagabend zwölf Kinder und Jugendliche ums Leben gekommen, dreissig weitere wurden verletzt.
Der Hizbullah weist die Verantwortung von sich
Der Angriff stellt eine signifikante Eskalation dar. Zwar bekämpfen sich Israel und der Hizbullah schon seit Monaten, nachdem die proiranische Schiitenmiliz im Oktober zur Unterstützung der Hamas einen Grenzkrieg vom Zaun gebrochen hatte. Doch trotz teilweise heftigem Beschuss konnten grössere Zahlen ziviler Opfer bisher auf beiden Seiten vermieden werden. Nun ist das mit einem Schlag anders.
Israel machte sogleich den Hizbullah für das Blutbad in Majdal Shams verantwortlich. Die Schiitentruppe habe eine Rakete der iranischen Bauart Falaq-1 auf den Fussballplatz in der Stadt abgeschossen, erklärten sie und veröffentlichten Bilder von Trümmerteilen des Geschosses sowie dessen angebliche Flugbahn. Der Hizbullah hingegen weist die Verantwortung von sich. Zwar habe man tatsächlich in der Nähe von Majdal Shams eine Militärbasis beschossen, hiess es vonseiten der Miliz. Der Einschlag auf dem Fussballplatz gehe aber nicht auf ihr Konto.
Am nun zu erwartenden Vergeltungsschlag wird dies allerdings kaum etwas ändern – zumal auch die Amerikaner in einer offiziellen Stellungnahme den Hizbullah für den Angriff verantwortlich machen. In Libanon bereitet man sich deshalb auf unruhige Zeiten vor. Diesmal, so die Erwartung, werden die Israeli deutlich härter zuschlagen als bisher. Viele fürchten, dass sogar die vom Hizbullah kontrollierten Teile Beiruts oder der internationale Flughafen zu Zielen werden könnten. Laut unbestätigten Meldungen soll die Miliz im Süden Libanons zudem Stellungen geräumt haben.
Bisher keine Angriffe in Libanon
Bereits in der Nacht auf Montag machten deshalb unzählige Gerüchte und Wasserstandsmeldungen die Runde. Israelische, libanesische und internationale Medien spekulierten, wann und wie der Schlag wohl stattfinden werde. Bis Montagmittag kam es jedoch abgesehen von den üblichen Gefechten an der Grenze zu keinen Angriffen auf Libanon. Stattdessen verharren die Bewohner des Landes weiterhin in einer nagenden Ungewissheit.
Gleichzeitig versuchen internationale Diplomaten offenbar, die Auswirkungen des kommenden Bebens zu begrenzen. Denn der Hizbullah gilt als treuester und wichtigster Verbündeter Irans in der Region. Eine Eskalation könne deshalb im schlimmsten Fall zu einem grossen Krieg führen. «Es ist wichtig, dass wir nicht nur helfen, eine Eskalation zu vermeiden, sondern auch die Spannungen abbauen», sagte der amerikanische Aussenminister Antony Blinken am Sonntag.
Sein Beiruter Amtskollege Abdallah Bou Habib – der wie alle Mitglieder seiner Regierung machtlos zuschauen muss, wie Libanon in Richtung Krieg taumelt – ging zudem mit der Meldung an die Presse, der Hizbullah sei bereit, sich von der Grenze zurückzuziehen, wenn Israel «seine Aggressionen einstellen würde». Ein Rückzug des Hizbullah gehört zu Israels zentralen Forderungen für eine Beendigung des Grenzkrieges. Ob das Angebot von Habib jedoch ernst gemeint ist, ist unklar.
Israel will offenbar auch keinen Krieg
Bisher hatte der Hizbullah eine Beendigung des Krieges stets mit einem Waffenstillstand in Gaza verknüpft. Die Schiitenmiliz scheint aber derzeit kein Interesse an einem grossen Krieg zu haben – genauso wenig wie Iran, welches seine libanesischen Verbündeten in erster Linie als Lebensversicherung gegen einen Angriff auf das eigene Territorium braucht. Für die Regierung in Jerusalem ist die derzeitige Anspannung deshalb auch eine Gelegenheit, Druck auf den Hizbullah auszuüben.
Israel scheint trotz der bellizistischen Rhetorik vieler seiner Politiker ebenfalls nicht an einem offenen Krieg gelegen. So zitierten israelische Medien ungenannte Offizielle, welche bereits in der Nacht auf Montag ankündigten, der Gegenschlag werde zwar signifikant ausfallen – werde aber keinen Krieg auslösen. Zudem bissen Israels rechtsextreme Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich mit ihrer Forderung nach einem Grossangriff im Sicherheitskabinett angeblich auf Granit. Nach einer vierstündigen Sitzung am Sonntagabend ermächtigte das Sicherheitskabinett Netanyahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant, über die Art und den Zeitpunkt einer Reaktion zu entscheiden.
Ob das alles aber ausreicht, um eine Eskalation zu vermeiden, ist ungewiss. Zu lange dauert der Krieg an der Grenze bereits an, und zu viele rote Linien wurden dabei überschritten. Zudem wäre es nicht das erste Mal in der Geschichte, dass ein Nervenkrieg zu einem echten Waffengang ausartet – obwohl eigentlich niemand ein Interesse daran hat.

