Der 71-jährige Kleriker und neuer Hizbullah-Generalsekretär hat im Vergleich zu seinem mächtigen Vorgänger wenig zu sagen. Denn die wichtigen Entscheidungen werden jetzt in Iran getroffen.
Als Naim Kassem kurz nach dem Tod von Hassan Nasrallah vor die Kameras trat, wirkte er alles andere als selbstsicher: Schwitzend stolperte er durch seine Rede, vor sich eine schwache Lampe, hinter sich eine Art gutbürgerliche Schrankwand. Der bizarre Auftritt wirkte nicht gerade wie ein Mutmacher für die Kämpfer des Hizbullah, die kurz zuvor ihren vergötterten Chef verloren hatten. Bei vielen anderen Libanesen löste sein Auftritt vor allem Heiterkeit aus.
Vier Wochen später hat sich Kassem offenbar gefangen. Nicht nur seine Reden sind besser geworden. Er hat nun auch ganz offiziell die Position seines von Israel getöteten Vorgängers eingenommen. Am Dienstagmorgen verkündete der Hizbullah, dass Naim Kassem vom Shura-Rat zum neuen Generalsekretär gewählt worden sei. Der 71-Jährige übernimmt die mächtige, von Iran unterstützte libanesische Schiitenmiliz in der tiefsten Krise ihrer Geschichte.
Die 1982 gegründete Truppe, die über Zehntausende Kämpfer und Raketen verfügt, steckt mitten in einem blutigen Krieg gegen Israels Armee. Am 27. September war ihr langjähriger Vorsitzender Hassan Nasrallah, der den Waffengang vor gut einem Jahr zur Unterstützung der Hamas vom Zaun gebrochen hatte, bei einem israelischen Bombenangriff auf seinen Untergrund-Bunker in Beirut getötet worden. Nasrallah hatte die Truppe über dreissig Jahre lang geführt. Sein designierter Nachfolger Hashem Safieddine starb kurz darauf ebenfalls bei einem israelischen Angriff.
Redner, Diplomat und Politiker
Nun soll Kassem die «Flamme des Widerstands scheinen und dessen Banner flattern lassen, bis der Sieg erreicht ist», wie es in der offiziellen Mitteilung heisst. Doch die blumigen Worte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der gelernte Chemiker ein schweres Erbe antritt. Denn Nasrallah galt nicht nur als charismatischer Redner. Er hat den Hizbullah auch zu dem gemacht, was er bis vor kurzem war: eine gewaltige, multinational tätige Miliz, deren Einfluss weit über Libanon hinausreichte.
Nasrallah kann daher keiner der verbliebenen Hizbullah-Kader das Wasser reichen. Kassem ist zwar auch schon seit Jahrzehnten dabei, bekleidete ab 1991 das Amt des stellvertretenden Generalsekretärs hinter Nasrallah und stammt aus dem umkämpften Südlibanon. Doch im Vergleich zu seinem Vorgänger soll der schiitische Kleriker auf die militärischen Entscheidungen des stets unter grosser Geheimhaltung operierenden Hizbullah wenig Einfluss gehabt haben.
Stattdessen trat er als Redner auf Konferenzen in Erscheinung, pflegte diplomatische Kontakte, gab Interviews und kümmerte sich unter anderem um die politische Arbeit des Hizbullah, der in Libanon mit Abgeordneten im Parlament sitzt, mehrere Bürgermeister stellt und sogar mit Ministern in der Beiruter Regierung vertreten ist. Zudem schrieb er 2006 ein Buch über die Miliz, welches ins Englische übersetzt wurde.
Die Generallinie wird in Teheran vorgegeben
Nun steht Kassem eine weitaus schwierigere Aufgabe bevor. Denn in seiner libanesischen Heimat kann der Hizbullah kaum mehr offen operieren. Seine Kader werden von israelischen Drohnen gejagt. Seine Kämpfer führen derweil in Südlibanon einen Krieg gegen die israelischen Bodentruppen. Zudem steht die Miliz auch innenpolitisch unter Druck. Viele der übrigen Parteien im konfessionell gespaltenen Libanon fordern inzwischen unverhohlen ihre Zurückstufung oder sogar ihre Entwaffnung.
Kassem muss deshalb versuchen, die Truppe neu aufzustellen. Allerdings ist fraglich, ob er dafür viel Spielraum hat. Der Hizbullah hat einen grossen Teil seiner militärischen Kader verloren. Zwar ist die Truppe im Feld nach wie vor funktionsfähig und schafft es sogar, Präzisionsraketen auf Israel abzuschiessen. Doch infolge des Aderlasses vermuten viele, dass die Generallinie der Miliz längst nicht mehr in Beirut vorgegeben wird, sondern in Iran.
Auch Kassem selbst soll sich seit Anfang Oktober in Teheran aufhalten. Stimmt das, dann wäre der Hizbullah von einem unabhängig agierenden Partner zu einer Art Vorfeld-Organisation der iranischen Revolutionswächter degradiert worden. Entsprechend wenig hätten die Libanesen innerhalb der Miliz in Bezug auf Krieg, Frieden oder einen möglichen Waffenstillstand zu melden. Naim Kassem bliebe dann bloss die Rolle eines Sprechers, der am Ende die Ergebnisse verkünden darf.