Dienstag, März 18

Der Bundesrat will auch in der Schweiz Kollektivklagen zulassen. Doch nach jahrelangen Diskussionen in der vorberatenden Kommission ist das Vorhaben nun praktisch gescheitert.

Mit einer schlauen Marketingstrategie hat es der Baselbieter Bonbon-Hersteller Ricola in den letzten 50 Jahren zu weltweiter Bekanntheit gebracht. Sogar in den USA ist das Unternehmen stark vertreten. Vor drei Jahren aber sah sich Ricola in den Vereinigten Staaten mit einer sonderbaren Sammelklage konfrontiert: Nicht die «Schweizer Alpenkräuter», mit denen Ricola auf den Bonbon-Packungen werbe, seien für versprochene heilende Wirkung verantwortlich. Sondern profanes Menthol, so lautete der Vorwurf. Die Konsumentinnen und Konsumenten würden deshalb getäuscht.

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Auch wenn der Erfolg vorerst ausblieb: Der Fall gilt als besonders absurdes Beispiel für eine ausser Kontrolle geratene Klage-Industrie in den USA. Organisiert und eingereicht wurde die Sammelklage von Sheehan & Associates, einem New Yorker Anwaltsbüro, das sich ganz auf dieses Geschäft spezialisiert hat. Hunderte von solchen «Class Actions» hat das Büro in den letzten zwei Jahrzehnten lanciert, von denen viele aussergerichtlich beigelegt werden: Geld gegen Rückzug der Klage. Indem sich Klägerinnen und Kläger nach amerikanischem Recht zusammenschliessen können, erhalten sie mehr Gewicht und Durchsetzungskraft. Gleichzeitig sinkt das finanzielle Risiko.

VW-Dieselskandal befeuerte die Debatte in der Schweiz

Solche Exzesse sind hierzulande ausgeschlossen. Lange waren Sammelklagen im individualistisch geprägten europäischen Recht kaum existent: Jeder Geschädigte musste Unternehmen stattdessen grundsätzlich einzeln auf Schadenersatz verklagen. Doch im Jahr 2020 verpflichtete die EU ihre Mitgliedstaaten, ebenfalls kollektive Klagemöglichkeiten einzuführen. Die Länder haben seither neue Regeln in unterschiedlicher Ausprägung geschaffen.

In der Schweiz entbrannte die Debatte darüber erstmals im Jahr 2015, als der VW-Dieselskandal um manipulierte Abgas-Software ganz Europa erschütterte. Während Besitzer von VW-Dieselautos als Folge der Sammelklagen in den USA und in anderen Ländern mit umgerechnet teilweise bis zu mehreren tausend Franken entschädigt wurden, gingen die meisten Konsumenten in der Schweiz leer aus. Die Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) versuchte es damals zwar mit einer Verbandsklage, unterlag aber vor Gericht.

2021 legte der Bundesrat einen Gesetzesentwurf für die Stärkung des kollektiven Rechtsschutzes auch in der Schweiz vor. Dieser sah zwar keine Sammelklage nach US-Vorbild vor, sondern eine stark abgeschwächte Variante, die sich an den schweizerischen Verfahrensgrundsätzen orientiert. So sollen gemäss dem Vorschlag hierzulande nur gewisse anerkannte und nicht gewinnorientierte Verbände und Organisationen eine Klage einreichen können, nicht aber einzelne Personen. Auch Strafzahlungen in exorbitanter Höhe sind in der Vorlage nicht vorgesehen. Ebenso dürfen Anwälte keine auf Erfolg basierten Honorare vereinbaren. Es gehe um eine «Helvetisierung und nicht um eine Amerikanisierung», sagte Justizminister Beat Jans am Montag im Nationalrat.

Sammelklagen nehmen in Europa stark zu

Der Widerstand gegen das Vorhaben war jedoch vor allem aus wirtschaftsnahen Kreisen von Anfang an äusserst gross – und am Montag folgte die Quittung. Im Nationalrat lief der Bundesrat mit seiner Revisionsvorlage der Zivilprozessordnung (ZPO) chancenlos auf. Mit 112 zu 74 Stimmen beschloss der Rat, nicht einmal auf die Vorlage einzutreten und sich damit gar nicht mehr mit den Einzelheiten der Vorlage auseinanderzusetzen. Der frühere «Kassensturz»-Moderator und heutige SP-Nationalrat Ueli Schmezer kritisierte dieses Vorgehen in aufdringlich repetitiven Zwischenfragen als Diskussionsverweigerung.

Für die Bürgerlichen überwiegen die Nachteile von Sammelklagen allerdings so klar, dass sie eine Diskussion über Details als unnötig erachteten. So befürchten sie, dass die Schweiz mit der Einführung eines solchen Instrumentes einen wichtigen Wettbewerbsvorteil aufgegeben hätten, wie der Berner Nationalrat Manfred Bühler (SVP) erklärte. Die Rechte der Konsumentinnen und Konsumenten seien in der Schweiz genügend geschützt. Und Philipp Matthias Bregy (Mitte) warnte – wie viele andere – vor der Amerikanisierung des schweizerischen Rechtssystems mit unkalkulierbaren Risiken.

Tatsächlich scheinen gewisse Bedenken nicht ganz unberechtigt zu sein, wie eine aktuelle Studie des «European Centre For International Political Economy» nahelegt. Während es bis 2010 in der EU kaum Kollektivklagen gab, stieg die Zahl in den Folgejahren an und schoss nach 2020 in gewissen Ländern förmlich in die Höhe. Die EU-Richtlinie über Verbandsklagen, die einen Mindeststandard für kollektive Rechtsdurchsetzung schafft, bildet dabei einen wesentlichen Treiber. Insbesondere in den Niederlanden haben die Klagen in einzelnen Jahren um ein Vielfaches zugenommen. Die Studie rechnet für in der EU tätige Unternehmen langfristig mit Kosten von bis zu 84 Milliarden Euro. Von diesen Summen profitierten aber nicht etwa die Konsumenten, sondern Anwälte und Prozessfinanzierer, meinte Bregy.

Hohe Prozesskosten erschweren Schadenersatzklagen

Nach Ansicht des Bundesrates und der Minderheit im Nationalrat drängt sich der Ausbau von kollektiven Klagerechten aus verschiedenen Gründen dennoch auf: So hätten einzelne Personen heute wegen der hohen Prozesskosten oft keine realistische Chance, ihre Rechte durchzusetzen. Dies sei vor allem bei sogenannten Streuschäden stossend – also dann, wenn der Schaden für den Einzelnen zwar gering, die gesamte Schadenssumme für alle Betroffenen aber hoch sei. Juristen kritisieren zudem seit Jahren die exorbitanten Prozesskosten in der Schweiz, die Klagen für viele zu einem riskanten Unterfangen machten. Die Kosten hätten ein Ausmass erreicht, welches einem Teil der Bevölkerung die Führung eines Prozesses mit hohem Streitwert faktisch verunmögliche, sagte Sibel Arslan (Grüne).

Trotz solchen teilweise zu Recht kritisierten Entwicklungen kommt der Absturz der Kollektivklagen-Vorlage nicht überraschend. Bereits die vorberatende Rechtskommission hat sich mit dem Vorhaben extrem schwergetan und sich in den letzten zwei Jahren an insgesamt fünf Sitzungen damit beschäftigt.

Klimaseniorinnen-Urteil hatte doch keinen Einfluss

Schliesslich vergrösserte das umstrittene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zugunsten der Schweizer Klimaseniorinnen die Verunsicherung noch. Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen sahen das Urteil als Bestätigung, dass Verbände eine zentrale Rolle in der Rechtsdurchsetzung spielen sollten. Die Rechtskommission liess vom Bundesamt für Justiz (BJ) abklären, ob das Urteil tatsächlich Folgen für die Ausgestaltung von Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes haben könnte. Das verneinte das Papier, weil der EGMR-Entscheid keinen Einfluss auf das Zivilrecht habe.

Dennoch dürfte das Klimaseniorinnen-Urteil die Skepsis im bürgerlichen Lager in Bezug auf den Ausbau von Rechtsmitteln für Verbände eher noch vergrössert haben. Ausschlaggebend war das Argument aber nicht. Das Geschäft geht nun an den Ständerat. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Entscheid des Nationalrates dort noch rückgängig gemacht wird, ist minim – oder mit anderen Worten: Das Risiko für eine baldige Sammelklage vor einem Schweizer Gericht ist seit Montagabend stark gesunken.

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