Donnerstag, April 17

Drei Monate vor der Fussball-EM in der Schweiz sagt die 31-Jährige, weshalb sie die jungen Spielerinnen schützt und welche Entwicklungen im Frauenfussball sie kritisch sieht.

Vier Spiele, zwei Unentschieden, zwei Niederlagen: Das ist die ernüchternde Bilanz des Schweizer Frauen-Nationalteams in diesem Jahr, das im Juli in der Heim-EM gipfelt. Am Dienstagabend in Island mussten sich die Schweizerinnen nach einer 2:0-Führung mit einem 3:3 begnügen. «Vogelwild» sei das Spiel gewesen, sagte Captain Lia Wälti danach dem SRF, «uns fehlt ins gewissen Situationen einfach der Charakter. Wir spielen zu naiv». Dass sie im Team aber durchaus auch positive Ansätze erkennt, erläuterte Wälti im Gespräch mit der NZZ, das vor den letzten zwei Spielen geführt wurde.

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Lia Wälti, die Leistungen des Nationalteams in den vergangenen Spielen waren durchzogen. Kommt die Heim-EM für die Schweiz zum richtigen Zeitpunkt?

Es ist ein guter Zeitpunkt. Es gab im letzten Jahr einen grossen Umbruch, danach hatten wir uns nicht ganz gefunden. Doch in den vergangenen Monaten haben sich viele junge Spielerinnen in unser Team gekämpft, sie sind wahre Lichtblicke. Für sie stimmt der Zeitpunkt: Sie sind noch nicht so bekannt, die Erwartungen sind weniger hoch. Wir waren in den letzten zwei, drei Jahren nicht auf einem Top-Level, aber wir haben Talent im Team und Erfahrung. Wir müssen in der Schweiz nun dringend den nächsten Schritt machen. Viele Länder machen grosse Fortschritte, wir dürfen den Anschluss nicht verlieren.

Sydney Schertenleib, eines der Talente, spielt bei Barcelona und wird in Spanien bereits mit Messi verglichen. Sie ist 18. Kann man in diesem Alter sagen, dass jemand auf dem Weg ist, ein Superstar zu werden?

Ich versuche, sie zu schützen. Es ist sehr wichtig, dass man Druck wegnimmt. Sie hat super Monate hinter sich und ist unglaublich talentiert. Aber sie ist nicht die einzige, es gibt noch zwei, drei andere, etwa Iman Beney oder Naomi Luyet. Der Druck sollte nicht auf einer einzelnen Spielerin liegen, erst recht nicht auf einer so jungen. Ich versuche den jungen Spielerinnen zu sagen, dass sie uns den Druck abgeben können. Sie sollen frei aufspielen. Ich hoffe, wir schaffen es, gut mit ihnen umzugehen und sie Fehler machen zu lassen.

Sie waren auch ein solches Talent, haben aber schon jung viel Verantwortung übernommen. Erkennen Sie sich in einer dieser Spielerinnen wieder?

Sie sind charakterlich alle sehr unterschiedlich. Naomi übernimmt schon viel Verantwortung. Sie strahlt mit 19 Jahren eine grosse Ruhe aus. Das hat mich damals auch ausgemacht. Sydney und Iman fokussieren mehr auf ihr eigenes Spiel, was aber nicht wertend gemeint ist.

Im Nationalteam hängt viel an Ihnen. Sie hören das nicht gerne. Wie bringt man andere dazu, einen Teil der Verantwortung zu übernehmen?

Das ist nicht so einfach. Ich musste auch lernen, Verantwortung abzugeben. Und merken, dass man Dinge abgeben und einer Person Vertrauen schenken muss, die vielleicht nicht so selbstbewusst ist. Gleichzeitig ist man darauf angewiesen, dass einem Leute helfen, in deren Naturell es liegt, Verantwortung zu übernehmen.

Finden Sie es schwierig, Verantwortung abzugeben?

Es wird einfacher mit dem Alter. Man lernt ja auch aus Fehlern. Ich habe in gewissen Phasen, in denen viel an mir gehangen ist, auch vieles an mich gerissen, um das ich mich nicht hätte kümmern müssen. Heute kann ich Verantwortung besser abgeben.

Die Nationaltrainerin Pia Sundhage beklagt, dass die Schweizerinnen zu wenig laut und selbstbewusst auftreten. Weshalb ist das so?

Kommunikation ist bei uns seit je ein grosses Thema. Wir hatten ja oft ausländische Trainerinnen und Trainer, die uns gesagt haben, wir seien so verhalten. Das ist vielleicht auch typisch schweizerisch. Pia will etwas anderes aus uns rauskitzeln. Und wir sind viel besser darin als vor zwei Jahren. Wir haben mehr extrovertierte Spielerinnen, die sich etwas trauen und laut sind.

Apropos etwas trauen. Vor zwei Jahren haben Sie sich mitten in der Saison eine Auszeit genommen, weil es Ihnen psychisch nicht gut ging. War es schwierig, Ihren Verein Arsenal darum zu bitten?

Es war vor allem schwierig, weil ich mir selbst lange nicht eingestanden habe, dass ich die Pause brauche. Danach war das Gespräch mit dem Verein relativ einfach, weil es für mich keine Option B gab. Eigentlich ist es wie bei einer Verletzung: Man fehlt eine unbestimmte Zeit. Aber bei einem Bänderriss kann man abschätzen, wie viele Wochen es dauert, bei etwas Mentalem nicht. Aber ich wurde sehr gut unterstützt. Viele Leute fragten nach, was mir fehlt. Da wurde mir bewusst, dass im Sport viel verschwiegen wird. Oft wird gesagt, jemand habe eine muskuläre Verletzung, aber in Wirklichkeit ist es eine mentale Auszeit. Mir war aber wichtig, dass ich es gegen aussen so kommuniziere, wie es war.

Weshalb?

Mir war wichtig zu sagen: Bei uns ist auch nicht alles perfekt.

Hat Sie dieser Schritt verändert?

Eher gestärkt oder ermutigt. Vielleicht hat es für andere etwas verändert: Sie sehen, dass man sich nicht dafür schämen muss. Ein nächstes Mal würde ich es früher teilen. Oft denkt man gar nicht an die Option, sich eine Pause zu nehmen.

Man sieht nur, weshalb es nicht geht, zu unterbrechen.

Genau. Du schläfst nicht gut, dann versuchst du es mit Schlafmitteln. Du isst nicht gut, aber da kommst du schon irgendwie durch. Du findest immer andere Lösungen, bevor du eine Pause nimmst. Es war bei mir kein Burnout und hatte nichts mit dem Fussball zu tun, sondern mit meiner privaten Situation. Es ging mir so schlecht, dass es mein ganzes Leben beeinflusst hat. Ich konnte nicht mehr essen, nicht mehr schlafen, das ist eine gefährliche Kombination. Im Sport setzt man sich so einer Verletzungsgefahr aus. Da merkte ich: So kann ich nicht mehr lange weitermachen.

Sie engagieren sich für viele Dinge, machen neben dem Fussball noch ein Studium. Wie bringen Sie alles zusammen?

In diesem Sommer kommt bei mir alles zusammen: Die EM, der Abschluss des Studiums, die Trainerlizenz, ich habe mein Haus umgebaut und dann gibt es ein Kinderbuch, das ich mit meiner Schwester herausgebe. Aber das macht unsere Familie aus: Wir verschieben selten etwas auf morgen, sondern nehmen eher etwas zu viel an. Ich bin zwar Profifussballerin, aber der Tag hat neben der Schlafenszeit 16 Stunden. Die kann man auch schlau nutzen.

Warum haben Sie ein Kinderbuch geschrieben und keine Autobiografie?

Ich habe schon immer eine grosse Verbundenheit zu Kindern gespürt. Auf meinem Weg habe ich gemerkt, wie viele Kinder zu uns aufschauen, wie viele wir begeistern können, das hat den Wunsch eines Kinderbuchs verstärkt. Dass es biografisch wird, war nicht geplant, es hat sich während dem Schreiben so ergeben. Hoffentlich können wir ein paar Kinder ermutigen, Profifussballerinnen und Profifussballer zu werden – oder überhaupt zu träumen und das zu tun, was sie möchten.

Es war kein einfacher Weg bis zur Veröffentlichung.

Als wir uns in den Kopf gesetzt haben, ein Kinderbuch herauszugeben, wussten wir nicht, was uns erwartet. Wir merkten schnell, dass es nicht einfach ist, einen Verlag zu finden. Es gab Momente, in denen wir stecken blieben. Doch wir haben zum Glück nie aufgegeben. Da hat uns geholfen, dass wir im Team gearbeitet haben. Eine von uns hatte immer den Drive, den es braucht, um dranzubleiben.

Es fällt auf, dass Ihre Schwester Meret und Sie sich sehr nahe stehen. Was bedeutet sie Ihnen?

Sie bedeutet mir sehr viel. Wir waren schon immer eng. Wir hatten ähnliche Hobbys in der Kindheit und haben uns gegenseitig herausgefordert beim Sport, uns angetrieben. Wir waren beide sehr fussballverliebt. Als Teenager haben wir uns etwas aus den Augen verloren. Als ich ins Ausland ging, wurde unsere Beziehung aber noch einmal stärker. Ich würde Meret als wichtigste Person in meinem Leben bezeichnen. Und jetzt haben wir erfahren, dass wir auch zusammenarbeiten können. Dass wir ein gutes Team sind für ein derartiges Projekt, ermutigt uns, an eine zukünftige Zusammenarbeit zu denken.

Haben Sie bereits Ideen?

Ideen haben wir sehr viele. Das war auch unser Problem mit dem Kinderbuch. Wir hatten eine Menge Ideen, uns auf eine Geschichte festzulegen, war schwierig. Aber unser Ziel ist es, etwas gemeinsam aufzubauen, womit wir Mädchen und Frauen im Fussball unterstützen können.

Sie sind eine Fürsprecherin des Mädchen- und Frauenfussballs. Vor der EM wurde die Förderung in der Schweiz ausgebaut. Gibt Ihnen das Hoffnung?

Ich frage mich, ob die Schweiz fussballbegeistert genug ist, damit man so viel erreichen kann wie in anderen Ländern. Es wäre aber falsch, sich zum Beispiel mit dem fussballverrückten England zu messen. Auch beim Schweizer Männer-Nationalteam ist nur jedes zehnte Spiel ausverkauft. Man muss realistisch sein, aber trotzdem bessere Bedingungen für die Frauen fordern. Oft erlauben auch die Stadien nicht mehr Zuschauer. In England sieht man das gut: Die Teams, die in gut zugänglichen Stadien spielen, sind viel schneller voll als abgelegene Stadien ohne Überdachung. In meinen Augen könnten die Super-League-Vereine ihre Frauenteams von diesen Bedingungen profitieren lassen.

Finden Sie denn, dass die Anstrengungen reichen? Etwa mit den Legacy-Projekten im Rahmen der EM?

Wenn man hart ist: Nein, es reicht nicht. In anderen Ländern wird schneller vorwärts gemacht. Aber man muss sehen, woher man kommt. Ich bin seit 2011 im Nationalteam und es hat sich auch in der Schweiz extrem viel bewegt. Ich bin gerne dankbar. Dafür, dass wir das Turnier überhaupt in die Schweiz holen wollten – ich hätte nie gedacht, dass das eine Option ist. Damit hat der Verband ein Zeichen gesetzt. Aber auch die Vereine müssen Verantwortung übernehmen. Gerade, wenn man die Liga attraktiver machen will. Ich kenne viele Spielerinnen, die zwischen 16 und 22 aufhören, weil Aufwand und Ertrag nicht mehr stimmen. Die Leute schieben sich oft den Ball zu, bis man sich fragt: Wer macht den Anfang?

In letzter Zeit haben verschiedene Spielerinnen von Auswüchsen im Frauenfussball gewarnt oder gesagt, der Hass in den sozialen Netzwerken nehme zu. Wie nehmen Sie das wahr?

Ich stimme zu. Je grösser die Fangemeinde wird, desto grösser die Aufmerksamkeit in den Medien, auch in den sozialen Netzwerken, und der Hass. Das ist leider die negative Seite des Business. Für mich gibt es eine klare Regel: Kommentare auf Social Media zu lesen ist tabu, vor allem nach den Spielen. Das macht nur unglücklich.

Der Frauenfussball war immer stolz auf seine Werte. Wie kann man verhindern, dass diese verlorengehen?

Das finde ich schon schwierig. Den Frauenfussball zeichnen Werte wie Offenheit und Toleranz bezüglich Sexualität oder Herkunft aus. Bei uns ist die Fankultur LGBTQ-lastig, es fühlen sich alle sicher. Ich hoffe, dass diese Sicherheit und das Familiäre erhalten bleiben. Aber je mehr wir in den Männer-Stadien spielen und dort 50 bis 60 000 Zuschauer haben, desto mehr Männer-Fans haben wir. Da treffen zwei Welten aufeinander. Ich frage mich, ob man das noch kontrollieren kann, wenn der Frauenfussball so wächst.

Glauben Sie, das geht?

Ich hoffe es, indem wir familienfreundliche Ticketpreise oder Anspielzeiten beibehalten. Aber es ist schwierig zu sagen, wohin sich unser Sport entwickelt, wenn es so rasant weiter geht wie in den letzten fünf Jahren. Doch Vorbilder sind wichtig und im Frauenfussball gibt es viele Spielerinnen, die ihre Sexualität offen ausleben. Das alleine unterstreicht die Werte und erhält sie aufrecht – vielleicht mehr, als es bei den Männern je der Fall sein wird.

Es ist paradox: Einerseits feiert man das Wachstum, anderseits muss man nun Auswüchse fürchten. Wie geht man mit diesem Paradox um?

Vieles geht über Vorbilder. Ob das die Spielerinnen oder Spieler sind oder Vereine oder Verbände. Wie viel investieren sie, diese Werte auszustrahlen? Nun beginnen Klubs, gegen Fans zu ermitteln, die Hassnachrichten schicken. Oder der ganze Verein unterstützt den Pride Month, nicht nur die Frauenabteilungen. Ich hoffe, dass wir nicht die Dimensionen des Männerfussballs erreichen. Diese lassen sich für mich nicht rechtfertigen.

Ihre Generation ist es sich gewöhnt, für eine Sache zu kämpfen. Die jüngeren Spielerinnen treffen eine andere Situation an. Und haben dadurch vielleicht nicht den gleichen Antrieb.

Im Gegensatz zu der Generation vor uns sind wir immerhin so privilegiert, dass wir noch ein Stück des Kuchens abbekommen. Man kann den Jungen nicht vorwerfen, dass sie das, was sie antreffen, als selbstverständlich ansehen. Aber ich kann mit ehrlicher Überzeugung sagen: Wir kämpfen immer noch für sehr viel. Ich bin privilegiert, weil ich für Arsenal spiele. Aber 99 Prozent der Spielerinnen sind in ganz anderen Situationen. Die sind täglich mit Themen konfrontiert, wie wir es bei Arsenal vor fünf, sechs Jahren waren.

Wenn man kämpfen musste, hat man ein anderes Bewusstsein, gerade etwa was feministische Themen betrifft.

Ja. Aber das ist eine Charakterfrage. Es gibt Spielerinnen, die ihre Stimme nutzen und solche, die introvertiert sind. Ich bin in einer Familie und einem Umfeld aufgewachsen, in dem wenig Sexismus existiert. Auch darauf kommt es an. Es ist okay, wenn jemand seine Stimme nicht nutzen will – aber es ist wichtig und ermutigend, dass es solche gibt, die es tun.

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