Dienstag, Januar 21

Immer wieder werden im nordeuropäischen Binnenmeer wichtige Unterseekabel beschädigt. Doch das ist nicht das einzige strategische Problem, vor das sich der Westen bei einem Treffen in Helsinki durch das immer aggressivere Putin-Regime im Ostseeraum gestellt sieht.

Es mutete merkwürdig an, als die «Eventin» kürzlich manövrierunfähig nördlich der Insel Rügen in der Ostsee trieb. Es war unklar, was passiert ist und welchen Schaden der 274 Meter lange und 48 Meter breite Tanker hatte. Bekannt war nur, dass sich 99 000 Tonnen Öl an Bord befinden. In Deutschland kam unter anderem die Sorge auf vor einer Umweltkatastrophe für den Fall, dass die «Eventin» havarieren würde. Das Schiff wurde schliesslich vor den Hafen von Sassnitz geschleppt.

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Im Herbst vorigen Jahres weckte ein anderes Frachtschiff in nordeuropäischen Gewässern grosse Ängste bei den Anrainern. Die unter maltesischer Flagge fahrende «Ruby» geisterte von August an mehrere Monate durch die Meere, beladen mit Ammoniumnitrat, einem Bestandteil von Dünger. Diese Chemikalie war es, die vor vier Jahren im Hafen von Beirut explodierte. Mehr als 200 Menschen starben damals, Teile von Stadt und Hafen sind bis heute zerstört.

Mehrfach auf ihrer Fahrt meldete die Besatzung das 183 Meter lange und 28 Meter breite Schiff als beschädigt oder beeinträchtigt. Über Tage lag die «Ruby» vor Norwegen, fuhr in die Ostsee, machte wieder kehrt, um schliesslich wochenlang nahe der Themsemündung im Englischen Kanal zu liegen. Am Ende gab es erhebliche Zweifel, ob das 12 Jahre alte Schiff tatsächlich reparaturbedürftig war. Amtliche Untersuchungen in Norwegen ergaben, dass keine gravierenden Schäden vorhanden seien.

Russische Schattenschiffe

Auch wenn die Fälle der «Eventin» und «Ruby» unterschiedlich sind, gibt es eine massgebliche Gemeinsamkeit. Beide Schiffe sollen der russischen Schattenflotte angehören. Das sind meist alte, kaum noch seetüchtige Tanker oder Frachtschiffe, oft mit Öl, Mineralölprodukten oder anderen gefährlichen Gütern beladen, um die EU-Sanktionen gegen das Kreml-Regime zu umgehen.

Der Ölschmuggel ist allerdings nur eine Aufgabe dieser Schiffe. Häufig befinden sich auch Abhör- und Spionagetechnik an Bord, ebenso Störsender, mit denen Funk- und GPS-Netze grossflächig zum Ausfall gebracht werden können. Seit Monaten müssen Airlines im Flugverkehr über der Ostsee mit dem plötzlichen Abriss der GPS-Verbindung rechnen. Immer wieder registriert Polen grossräumige Störungen des Mobilfunknetzes. Und wiederholt führen die Spuren nach Russland.

Auch das ist noch nicht alles, wenn es um die Rolle der Schattenschiffe geht. Im Dezember stellten die finnischen Behörden schwere Schäden an mehreren Unterseekabeln in der Ostsee fest. Weihnachten soll etwa der Öltanker «Eagle S» mit seinem Anker das am Boden der Ostsee verlaufende Stromkabel «Eastlink 2» zwischen Finnland und Estland beschädigt haben. Die Behörden vermuten Sabotage und beschlagnahmten den unter Flagge der Cookinseln fahrenden Tanker. Auch er wird der russischen Schattenflotte zugerechnet.

Schliesslich gibt es neben Ölschmuggel, Spionage und Sabotage noch eine vierte Aufgabe, die in Sicherheitskreisen den russischen Schattenschiffen zugerechnet wird. Das Kreml-Regime wolle mit diesen Schiffen testen, wie die westlichen Staaten, ihr Militär, die Behörden und die Öffentlichkeit auf Provokationen reagierten. Ein vermeintlich havarierter, vollbeladener Öltanker vor Rügen oder ein mit explosivem Ammoniumnitrat beladener Frachter vor der Themsemündung – das alles könne Menschen beunruhigen und ängstigen. Verunsicherung stiften, Verwirrung schaffen, darum, so warnen westliche Sicherheitsexperten seit Jahren, gehe es Wladimir Putin in seinem Konflikt mit dem freien Westen.

Militär-Mission zur Überwachung der Ostsee

Als am Dienstag in Helsinki die Staatschefs der Nato-Ostsee-Anrainerstaaten zusammentrafen, ging es unter anderem darum, wie sie künftig auf das russische Vorgehen reagieren wollen. Sie verständigten sich auf eine stärkere Überwachung des Ostseeraums und gründeten die Mission «Baltic Sentry» zur Abschreckung gegnerischer Aktivitäten. Sie umfasst Kriegsschiffe, U-Boote, Aufklärungsflugzeuge, Satelliten und Drohnen. Das Hauptquartier befindet sich in Rostock. Auch Deutschland, kündigte Kanzler Olaf Scholz an, werde sich mit Kriegsschiffen beteiligen. Einzelheiten sind bisher nicht bekannt.

Deutsche Sicherheitsexperten sehen allerdings nicht allein das Militär in der Rolle, die russischen Provokationen und Bedrohungen einzudämmen. Es heisst, auch die Behörden müssten «endlich die Samthandschuhe ablegen» und dafür sorgen, dass die deutschen Gesetze und internationalen Regeln auf See durchgesetzt würden. Zu oft, so lautet die Kritik, liessen sich in deutschen Hoheitsgewässern Küstenwache, Zoll, Fischereiaufsicht und Havariekommando sowie die Länderpolizeien von den Russen brüskieren.

Sie würden etwa Fischkutter mit weithin sichtbaren Antennen für Abhöranlagen in deutschen Gewässern als verirrte Trawler deklarieren, um nicht auf Konfrontation gehen zu müssen. Schrottreifen Tankschiffen würde die Passage durch deutsche Gewässer gewährt, obwohl sie eine Gefahr für die Umwelt und die Sicherheit der Seewege darstellten. Andere Staaten gingen da inzwischen entschiedener vor.

Das zeigt das Beispiel Finnlands. Nach der Beschädigung der Stromleitung «Eastlink 2» ermittelt dort die Polizei wegen des Verdachts der Sabotage. Sie soll Besatzungsmitglieder der «Eagle S» sogar vorübergehend verboten haben, Finnland zu verlassen. Es müsse darum gehen, heisst es, den Russen zu zeigen, dass ihr Vorgehen nicht mehr geduldet werde und Konsequenzen habe.

Gefährdung des Nato-Nachschubs aus Amerika

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, über den nach Ansicht von Sicherheitsfachleuten am Dienstag in Helsinki mutmasslich gesprochen worden sei. Es gehe darum, wie eine Anlandung amerikanischer und britischer Verstärkungen in Europa im Falle eines russischen Angriffs im Baltikum gesichert werden könne.

Die Herausforderung für die Nato besteht darin, dass sie Truppen, Gerät und Waffen von Übersee nur an wenigen Orten in Europa anlanden kann. Lediglich die Häfen von Antwerpen, Rotterdam und Bremerhaven verfügten demnach über die Voraussetzungen, um grosse Militärkontingente von der Nordsee aus auf das Festland zu schaffen. Ein einziges Schiff der Grösse eines Tankers, beladen mit Öl oder Explosivstoffen, quer in der Fahrrinne liegend, reiche, um jeden dieser Häfen für Wochen zu blockieren, sagen Marinefachleute.

Auch die Ostseehäfen liessen sich leicht abriegeln. Dafür genüge etwa eine Beschädigung der Schleusen oder ein havarierter Frachter im Nord-Ostsee-Kanal mit einer gefährlichen Ladung, der schwierig zu bergen ist. Dann käme längere Zeit kein Schiff mehr durch. Selbst der Umweg von der Nordsee über Skagerrak und Kattegat liesse sich versperren, und zwar über die Meerenge von Helsingborg. Sie liegt an der schmalsten Stelle des Öresund.

Sabotage auch auf Eisenbahnstrecken

Die Nato müsste im Kriegsfall viele tausend Kilometer zurücklegen, um das Baltikum zu erreichen. Das Beistandsversprechen der Allianz für ihre osteuropäischen Mitglieder besteht darin, innerhalb weniger Wochen mit Verstärkungen vor Ort zu sein. Solange müsste in Litauen etwa die deutsche Brigade durchhalten und die Angreifer aufhalten. Doch wenn sich das Eintreffen der Verstärkungen verzögert, weil die Seewege und Häfen abgeriegelt sind, könnte der Kampf verloren sein, ehe er richtig begonnen hat.

Neben der See bliebe der Nato schliesslich noch die Schiene als Transportweg in Richtung Baltikum. Doch auch hier zeigt sich, wie anfällig und verwundbar die Nato ist. Es gibt etwa eine Eisenbahn-Verbindung zwischen Norwegen, Schweden und Finnland. Sie ist seit Monaten immer wieder das Ziel mutmasslicher Sabotageaktionen. Vor allem in Norwegen und Schweden verdächtigten die Behörden mehrfach Russland, für die Entgleisung von Zügen im vergangenen Jahr verantwortlich zu sein. Dazu sollen unter anderem Schienen auf einer Länge von mehreren Metern entfernt worden sein.

Die Sorge über die Entwicklungen in der Ostsee ist gross unter Sicherheitsfachleuten. Mit seinen hybriden Massnahmen unterhalb der Schwelle eines militärischen Angriffs wolle das Kreml-Regime Instabilität und Verunsicherung in den westlichen Gesellschaften stiften, heisst es. Die Attacken würden immer mehr und immer aggressiver.

Im Sommer dieses Jahres trifft sich die Nato in Den Haag zu ihrem nächsten Gipfel. Mutmasslich wird dort auch erstmals nach seiner erneuten Wahl der US-Präsident und Nato-Kritiker Donald Trump teilnehmen. Dem bisherigen Vernehmen nach sollen dort weitere Massnahmen beschlossen werden, mit denen sich die westliche Militärallianz in der Ostsee gegen das russische Vorgehen wehren will.

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