Dienstag, Oktober 1

Sie haben alte Nazis aufgespürt, Neofaschisten bekämpft und dabei ihr Leben riskiert. Politisch ecken Beate und Serge Klarsfeld bis heute an. Im Interview erklären sie, was sie mit Marine Le Pen verbindet und weshalb sie auf einen Wahlsieg von Donald Trump hoffen.

«He, geht wieder rein», sagt Beate Klarsfeld zu den beiden kleinen Hunden, die kläffend herbeirennen. Sie spricht schnell, leise und mit einem deutschen Akzent, bittet freundlich ins Büro. Die Klarsfelds wohnen und arbeiten in einem mit Stuckaturen geschmückten Haus an der Rue La Boétie. An den Bürowänden hängen Fotos, Urkunden und Zeitungsartikel, eine von Emmanuel Macron unterschriebene Aufnahme in die Ehrenlegion, eine Ausgabe der «Morgenpost» von 1968. «Sie ohrfeigte den Bundeskanzler!», lautet die Schlagzeile, darunter ein Foto der jungen Beate Klarsfeld mit Kopftuch.

Das grösste Bild im Raum ist ein Plan des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Viele Fotos zeigen Kinder, gescheitelte Jungen, lächelnde Mädchen mit Schlaufen in den Haaren. «Sie wurden alle deportiert, vergast», sagt Serge Klarsfeld. «Jemand musste ihnen ein Gesicht geben, ihre Geschichte erzählen. Und da ich den Krieg überlebt habe, fiel die Wahl auf mich.»

Seit 1963 verheiratet, hat sich das Ehepaar Klarsfeld dem Kampf gegen alte und neue Nazis verschrieben. Er als Sohn eines jüdischen Widerstandskämpfers, sie als Tochter eines Wehrmachtssoldaten. Zusammen haben sie das Leben Tausender ermordeter französischer Kinder dokumentiert, französische Kollaborateure entlarvt und Verbrecher aufgespürt, die in der BRD und anderswo ungehindert Karriere machen konnten.

Etwa den Lyoner Gestapo-Chef Klaus Barbie, der jüdische Kinder verhaften liess und Widerstandskämpfer wie Jean Moulin persönlich zu Tode folterte. Oder den SS-Hauptsturmführer Alois Brunner, der die «Endlösung» in Frankreich organisierte – und 1943 in Nizza eine Razzia befahl, bei der Serge Klarsfelds Vater Arno verhaftet wurde.

Von streitlustiger Natur, löst das Paar immer wieder Kontroversen aus. In der Schweiz etwa über die Zahl der abgewiesenen Juden im Zweiten Weltkrieg, die Serge Klarsfeld für viel tiefer hält als von Schweizer Historikern behauptet. Mit seiner Aussage, er würde in einer Stichwahl lieber für das Rassemblement national von Marine Le Pen als für die «Neue Volksfront» aus Linken und Linksextremen stimmen, hat der 89-Jährige im letzten Frühling einen internationalen Aufschrei provoziert. Vor allem deutsche Medien verstanden die Welt nicht mehr: Wie, so fragten sie sinngemäss, können Nazijäger Nazis wählen?

An geistiger Umnachtung, wie einige wohl insgeheim dachten, liegt es nicht. Er hört zwar schlecht, aber beide sind geistig hellwach, Ruhestand ist kein Thema. Während des Gesprächs schrillt immer wieder die Hausklingel oder das Telefon, zuletzt mit der Nachricht, dass Michel Barnier Premierminister geworden sei. Nur die Hunde schlafen friedlich und geben Schnarchgeräusche von sich.

Herr Klarsfeld, Sie haben Ihr Leben lang Nazis gejagt und Neofaschisten bekämpft. Der Judenhass scheint jedoch verbreiteter denn je. Denken Sie manchmal, Ihr Kampf sei vergeblich gewesen?

Serge Klarsfeld: Niemals! Ich habe nie geglaubt, dass der Antisemitismus verschwinden würde. Nicht, nachdem mitten in Europa 6 Millionen Juden getötet worden waren. Es war mir klar, dass der Judenhass immer wieder neue Gesichter annimmt. Erst hatte er das Gesicht der Religion, dann der Rasse, jetzt ist es die Tatsache, dass es einen jüdischen Staat gibt. Die arabische Welt will den jüdischen Staat seit Jahrzehnten loswerden. Sie haben schon die Christen vertrieben, warum nicht auch die Juden? Es sind heute nicht mehr primär die Juden in den westlichen Ländern, die den Antisemitismus nähren. Es ist die Existenz des Staates Israel.

In Frankreich zeigt sich dieser neue Antisemitismus besonders stark. Kürzlich hat ein Algerier in der Nähe von Montpellier eine Synagoge angezündet. In einem Vorort von Paris haben muslimische Jugendliche ein jüdisches Mädchen vergewaltigt, mutmasslich um es zu bestrafen. Und die linke Partei La France insoumise verbreitet Verschwörungstheorien über Israel.

Serge Klarsfeld: Das zeigt, welch grosse Veränderung des Antisemitismus wir erleben. Die extreme Rechte ist heute projüdisch, die extreme Linke dagegen offen antisemitisch, im Namen des Antizionismus. Sie macht die französischen Juden verantwortlich für das, was in Israel und in Gaza passiert. In Frankreich leben schätzungsweise 7 Millionen Muslime und 500 000 Juden, so viele wie nirgends sonst in Europa. Die extreme Linke von Jean-Luc Mélenchon buhlt mit antiisraelischer Demagogie um die Stimmen der Muslime. Die Vorfälle, die Sie erwähnen, sind damit unvermeidlich. Es passiert in der Metro, auf der Strasse, überall. Leute greifen Juden an, wie in den 1930er Jahren.

Haben Sie selber Angriffe erlebt?

Serge Klarsfeld: Nein, hier sind wir sicher, das ist ja ein vornehmes Quartier. Anders ist es für die Juden in den populären Quartieren, in der Banlieue, in Marseille, überall, wo die extreme Linke stark ist und es eine grosse muslimische Bevölkerung gibt. Die haben grosse Schwierigkeiten. Viele Muslime, die in europäischen Ländern leben, wollen sich je länger, je weniger den Gesetzen unterstellen.

Beate Klarsfeld: In Marseille musste gerade eine Moschee schliessen, weil dort Hass verbreitet wurde. Diese Leute wollen sich nicht integrieren. Es gibt auch viele jüdische Familien, die ihre Kinder in private Schulen bringen.

Sie haben gesagt, die extreme Rechte sei heute proisraelisch und projüdisch. Ist das wirklich so? Marine Le Pen hat noch vor wenigen Jahren gesagt, Frankreich habe keine Verantwortung für das Vichy-Regime, das im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kooperiert hat. Ihr Vater Jean-Marie Le Pen war ein Antisemit, der die Gaskammern als Detail der Geschichte bezeichnet hat.

Serge Klarsfeld: Die Tochter ist nicht der Vater. Gegen Jean-Marie Le Pen haben wir ja prozessiert. Am Ende des Prozesses kam er zu mir und sagte: «Ich bin nicht Ihr Feind.» Ich habe nicht geantwortet. Als Person war er nicht unsympathisch, aber er war ein Feind. Seine Tochter ist für mich eine politische Gegnerin, keine Feindin. Sie ist ein liebenswerter Charakter. Und da sie Katzen aufzieht und wir Katzen lieben, haben wir ein Terrain d’entente. Sie schickt unserem Sohn Katzenvideos, und er schickt ihr Videos von unseren Katzen. Für uns ist entscheidend, dass sie ihre Mitglieder rügen oder aus der Partei schmeissen lässt, wenn sie Verschwörungstheorien und Antisemitismus verbreiten. Und dass sie Gesetze anerkennt, welche die Leugnung der Shoah unter Strafe stellen. Ich glaube, sie meint es ehrlich. Man sollte sie nicht als Paria behandeln.

Jordan Bardella, der Spitzenkandidat von Le Pen, hat gesagt, Jean-Marie Le Pen sei kein Antisemit gewesen. Das hört sich nicht nach einer ehrlichen Auseinandersetzung mit dem eigenen Erbe an.

Serge Klarsfeld: Bardella war da eher unbeholfen, er wurde von der Frage überrumpelt. Die Wahrheit ist doch: Das Rassemblement national ist eine populistische Partei. Sie unterscheidet sich nicht mehr gross von der republikanischen Rechten. Das ist der einzige grosse Sieg, den der Kampf gegen den Antisemitismus bewirkt hat: Wir konnten die meisten rechtsextremen Parteien in Europa überzeugen, dass die Shoah stattgefunden hat und dass man daraus die Konsequenzen ziehen muss. Marine Le Pen hat im Oktober vor einem Jahr am Marsch gegen Antisemitismus in Paris teilgenommen, mit uns. Emmanuel Macron hat auf eine Teilnahme verzichtet, das war ein grosser Fehler. Jean-Luc Mélenchon hat den Marsch boykottiert, den Teilnehmern unterstellte er, sie unterstützten das «Massaker» in Gaza. Seine Partei stinkt nach Judenhass.

Im Frühling haben Sie für Unverständnis gesorgt, weil Sie sagten, Sie würden in einer Stichwahl lieber für Le Pen als für die linke Volksfront stimmen. Ihre Aussagen wurden auch von jüdischen Weggefährten kritisiert. Hat Sie das getroffen?

Serge Klarsfeld: Wissen Sie, ich habe immer für das Zentrum gestimmt, für Mitte-links oder Mitte-rechts, nicht für Marine Le Pen. Ich habe nur gesagt, dass ich lieber für sie stimmen würde als für die Linke.

Beate Klarsfeld: Viele verstanden unsere Aussagen überhaupt nicht, auch Freunde und Verwandte. Ich glaube, sie sehen die Gefahr nicht, die von den Linksextremen ausgeht. Die französische Linke hat sich in den letzten Jahren stark verändert, ich erkenne sie kaum wieder.

Sie waren in den 1960er Jahren Mitglied der Auslands-SPD und wurden 2012 von der Partei Die Linke als Bundespräsidentin vorgeschlagen. Wählen Sie in Deutschland noch links?

Beate Klarsfeld: Bei den letzten Wahlen habe ich für die Partei Die Linke gestimmt. Die Partei gibt’s ja nicht mehr wirklich, sie hat sich intern zerstritten und wurde durch die neue Partei von Sahra Wagenknecht ersetzt. Das ist schade, die Linke hat sich immer für die Aufarbeitung der Vergangenheit eingesetzt.

Die AfD hat gerade die Landtagswahlen in drei deutschen Bundesländern gewonnen, eine Partei, die nicht viel von Vergangenheitsbewältigung hält. Bereitet Ihnen das Sorgen?

Beate Klarsfeld: Die AfD ist eine extreme Partei, eine Nazipartei. Dazu ist sie prorussisch. Alexander Gauland hat gesagt, das Dritte Reich sei nur ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte. Es gibt auch AfDler, die die Gedenkstätte Buchenwald besuchen. Sie sind vorsichtig und passen auf, was sie sagen. Leider ist die Ampelregierung sehr schlecht. Sie streiten, statt zu regieren, die Grünen mit den Liberalen, und so weiter. Es fehlen Leute wie Helmut Schmidt und Willy Brandt. Man darf aber nicht vergessen, dass diese Wahlen in Ostdeutschland waren. Da sind die Leute unzufriedener. Nach den Enthüllungen über das AfD-Treffen in Potsdam haben in Westdeutschland Millionen Menschen gegen Rechtsextremismus protestiert. In Ostdeutschland waren es viel weniger. Es gibt immer noch zwei Deutschland.

Serge Klarsfeld: Für mich ist die AfD die einzige extrem rechte Partei, die immer noch antisemitisch ist. Es ist schwierig, sie zu bekämpfen, weil Deutschland wirtschaftlich eher auf dem Abstieg ist – und die Regierung nicht fähig ist, die Probleme zu lösen.

Ihr Sohn Arno ist 1984 zusammengeschlagen worden, als er eine Veranstaltung des Front national störte. Wie gefährlich war der Kampf gegen diese Partei?

Serge Klarsfeld: Er ist in einem T-Shirt mit der Aufschrift «Le Pen Nazi» auf die Bühne gestürmt. Gewiss, er wurde geschlagen, aber wenn er nicht hingegangen wäre, wäre ihm nichts passiert. Ja, wir haben gefährlich gelebt, vor allem in den 1970er Jahren. Dies jedoch nicht wegen des Front national, sondern wegen der alten Nazis. Einmal ist in meiner Garage eine Bombe mit Zeitzünder platziert worden, sie sollte am Morgen explodieren, wenn ich meine Tochter zur Schule bringen würde. Sie ist zum Glück schon um 3 Uhr morgens hochgegangen. Unser Auto war total zerstört.

Das waren alte Nazis?

Serge Klarsfeld: Im Bekennerschreiben haben sie sich jedenfalls auf «Odessa» berufen (die Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen, Red.). Erwischt hat man sie nie. Ein anderes Mal haben wir ein Paket erhalten, es sah aus wie eine Schachtel mit Pralinen. Die Adresse war falsch, deshalb habe ich das Couvert nur ein bisschen geöffnet. Als ich das Pulver sah, bin ich sofort zur Polizei gegangen und habe gesagt: «Voilà, ich bringe euch eine Bombe.» Das Paket war mit einem Pfund Dynamit und mit Nägeln gefüllt. Ich vermute, es waren französische Nazis. Beate war zum Glück nicht da, mein Sohn auch nicht, sonst hätte er es vielleicht aufgemacht.

Derartige Vorfälle haben zum Nimbus der Klarsfelds beigetragen. Von Staatspräsidenten mit Orden und Grosskreuzen der Ehrenlegion ausgezeichnet, hat ihr Leben Künstler und Filmemacher inspiriert. Es gibt eine Graphic Novel und Filme, etwa das Drama «Verfolgt und gejagt» mit Farrah Fawcett oder «Die Hetzjagd» mit Franka Potente in der Hauptrolle. Wenn dort auch einiges überzeichnet und dramatisiert wird, so liest sich die Geschichte des Paars wie ein Abenteuerroman.

Beate Künzel, wie sie ledig hiess, kommt als junges Au-pair nach Paris, weil sie es zu Hause in Berlin nicht mehr aushält. Den Politologie- und Geschichtsstudenten Serge lernt sie an einer Metrostation kennen. Durch ihn wird sie auf die Schrecken der Nazizeit aufmerksam. Als Sekretärin des deutsch-französischen Jugendwerks in Paris schreibt sie mehrere Artikel gegen den damaligen CDU-Politiker Kurt Georg Kiesinger. Dieser war 1933 in die NSDAP eingetreten und arbeitete während des Krieges in führender Position für Joseph Goebbels’ Propagandaabteilung.

1968 gelingt es ihr, an einer CDU-Wahlveranstaltung das Sicherheitspersonal zu übertölpeln und Kiesinger eine Ohrfeige zu verpassen. Als «Ohrfeigen-Beate» gefeiert und verhöhnt, wird die junge Deutsche entlassen und zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die später aufgehoben wird. Aufgrund dieser Erfahrungen beschliesst das Paar, sein Leben dem Kampf gegen alte und neue Nazis zu verschreiben, ohne Rücksicht auf die berufliche Karriere. «Wie könnte ich zulassen», so soll er ihr gesagt haben, «dass du vor die Türe gesetzt wirst, weil du die Wahrheit über einen Nazi gesagt hast?»

Im Kalten Krieg werden alte Nazis überall gebraucht und protegiert. Klaus Barbie, der einstige «Schlächter von Lyon», ist mithilfe des amerikanischen Geheimdienstes und der katholischen Kirche nach Südamerika geflüchtet, wo er sich unter dem Namen Klaus Altmann eine Handelsfirma aufbaut, in deutschen Klubs von Hitler schwärmt und die Repressionsapparate von rechten Diktatoren berät. Dass er in Frankreich zweimal in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden ist, kümmert die Amerikaner nicht.

Alois Brunner, verantwortlich für die Deportation von rund 130 000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern, hat im «progressiven» Sowjet-Verbündeten Syrien eine neue Heimat gefunden, als Schützling des Asad-Clans. Viele Verbrecher fühlen sich jedoch derart sicher, dass sie in Deutschland bleiben – und nicht einmal den Namen ändern. Das Telefonbuch, so schreiben Beate und Serge Klarsfeld in ihrer 2015 erschienenen Biografie «Mémoires», sei eine ihrer wichtigsten Quellen gewesen.

Sie spielen der Presse Material zu, versuchen diplomatischen Druck aufzubauen, um die Täter vor Gericht zu bringen. Kurt Lischka, den ehemaligen Gestapo-Chef in Paris, spüren sie in Köln auf und stellen ihn vor laufender Kamera zur Rede, einmal bedrohen sie ihn mit einer ungeladenen Pistole. 1973 versuchen sie gar, ihn in ein Auto zu zerren und nach Frankreich zu bringen, wo er nach dem Krieg in Abwesenheit verurteilt worden ist.

Der Versuch schlägt fehl, genauso wie ein Plan, Klaus Barbie in Bolivien entführen zu lassen. Der mediale und diplomatische Druck wirkt jedoch: Lischka wird 1979 in Köln mit zwei Komplizen vor Gericht gestellt und verurteilt. Barbie wird 1983 nach Frankreich ausgeliefert, wo er sich in Lyon seinen ehemaligen Opfern stellen muss. Dass er für den Rest seines Lebens ins Gefängnis wandert, ist massgeblich den Klarsfelds zu verdanken: Sie finden unter anderem ein Telex, in dem Barbie die Verhaftung von 44 jüdischen Kindern in Izieu anordnet.

Während der Recherchen zu Barbie beschliesst Serge Klarsfeld, die Namen aller deportierten französischen Juden zu veröffentlichen und die Geschichte der Shoah in Frankreich zu schreiben. Auch das Schicksal seines Vaters erfährt er: Weil er sich gegen einen prügelnden Kapo wehrt, wird er in das Aussenlager Fürstengrube gebracht, wo er, wie ein Häftling später berichtet, liquidiert wird.

Alois Brunner kommt zeitlebens ungestraft davon. Nachdem die Klarsfelds mehrmals nach Syrien gereist sind, um seine Auslieferung zu fordern, stellen ihn seine Beschützer jedoch unter Hausarrest. Immerhin, so drückte es Serge Klarsfeld kürzlich in der Zeitschrift «Le Point» aus, habe er dem Mann damit «ein wenig den Lebensabend vermiest».

Herr Klarsfeld, Sie waren fünf Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht Frankreich besetzt hat und der Terror gegen Juden auch dort begann. Ihre Eltern waren rumänische Juden, die nach Frankreich ausgewandert waren. Haben Sie realisiert, was passierte?

Serge Klarsfeld: Ja, als Kind habe ich die deutschen Soldaten gesehen, die Niederlage war uns bewusst. Mein Vater hat an der Front gekämpft, geriet in Gefangenschaft und konnte entwischen. Wir sind dann in die freie Zone von Pétain geflüchtet, nach Nizza (Südfrankreich wurde bis Ende 1942 nicht direkt besetzt, sondern von der nazifreundlichen Regierung des Marschalls Philippe Pétain verwaltet, Red.). Es war sehr schwierig, wir hatten kein Geld, aber das Leben war ziemlich normal, weil wir rumänischen Juden zunächst verschont wurden. Vor allem die Italiener, die Nizza zeitweise besetzt haben, waren formidabel und nett zu allen. Ich habe bis heute eine Hochachtung vor den Italienern! Im September 1943 änderte sich alles.

Es gab eine Razzia, bei der Ihr Vater verhaftet wurde.

Serge Klarsfeld: Wir wussten, dass wir sterben, wenn sie uns finden. Wir hatten Angst, jeden Tag. In der Nacht haben wir auf die Deutschen gewartet. Einmal sind sie in die Wohnung unserer Nachbarn eingedrungen. Der Freundin meiner Schwester haben sie ins Gesicht geschlagen und ihr die Nase gebrochen. Sie wollten wissen, wo ihr Bruder ist. Wir haben alles gehört, das Gebrüll, die Schreie, das Weinen. Wir hatten einen Schrank mit einem doppelten Boden. Als Tarnung hat mein Vater Kleider hineingehängt. Wenn Gefahr drohte, sind wir zu dritt hineingegangen, er blieb draussen. Als die Gestapo zu uns kam, hat einer von ihnen in den Schrank gefasst und die Kleider zur Seite geschoben. Aber den doppelten Boden sah er nicht. Meinen Vater haben sie mitgenommen.

Ihr Vater ist in Auschwitz gestorben, Sie haben in einem kleinen Dorf im Zentrum Frankreichs, Le Puy-en-Velay, überlebt. In Ihrem Buch schreiben Sie, Sie wären dort beinahe katholisch getauft worden und hätten von den Deutschen kaum etwas zu befürchten gehabt. Das wirkt fast surreal.

Serge Klarsfeld: Ja, es gab keine Gestapo im Dorf, nur die Armee. Ich erinnere mich an einen deutschen Offizier, der sehr nett war. Er hat die Résistance bekämpft, die Juden waren ihm egal. Er war Professor. Die Deutschen hatten zwei Gesichter, nicht alle waren böse. Später habe ich von den Geschwistern Scholl gelesen. Das hat mir geholfen, nicht alle Deutschen zu hassen.

In vielen Recherchen haben Sie aufgezeigt, dass der Holocaust in Frankreich massgeblich durch die Kollaboration der französischen Behörden ermöglicht wurde. Das widersprach dem heroischen Selbstbild Frankreichs. Hat sich das geändert?

Serge Klarsfeld: Als Kind hatte ich keine Angst vor der französischen Polizei, nur vor den Deutschen. Das war natürlich ein Irrtum, denn die Mehrzahl der Juden wurde von Gendarmen verhaftet. An diesen Irrtum glaubten die meisten Franzosen, bis in die 1970er Jahre. Dass sich Marschall Pétain, diese Ikone des Ersten Weltkriegs, in diese Verbrechen verstrickt hatte, war schwer zu akzeptieren. Einer meiner Professoren hat sogar behauptet, was mit den Juden geschehen sei, sei nicht so schlimm gewesen. Das war ein alter Kollaborateur. Man darf jedoch nicht vergessen, dass es grossen Widerstand in der Bevölkerung gegeben hat. Das hat viele Juden gerettet. Und alle Präsidenten haben uns unterstützt. Wir sind ja das meistdekorierte Paar Frankreichs . . .

Jacques Chirac hat die Verantwortung Frankreichs anerkannt, mit ihm waren Sie freundschaftlich verbunden. Zu François Mitterrand scheinen Sie ein eher ambivalentes Verhältnis gehabt zu haben.

Serge Klarsfeld: Wir hatten gute Beziehungen zu allen Präsidenten, weil wir nicht politisch sind, ganz einfach. Ausser Georges Pompidou, der hatte Mühe mit dem Thema. Er selber hat während des Krieges nichts gemacht, er war Professor. Sein Onkel allerdings wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt, wegen Kollaboration. Mitterrand hat jedes Jahr Blumen niedergelegt am Grab von Marschall Pétain, das stimmt. Und er hat René Bousquet protegiert, den einstigen Polizeichef in Vichy. Gleichzeitig hat er Beate unterstützt, als sie im Gefängnis war, wegen der Entführungsaktion gegen Kurt Lischka. Und es war seine Regierung, die Klaus Barbies Auslieferung durchgesetzt hat.

Die Verhaftung von Klaus Barbie wird in Filmen und Berichten über Sie meist als wichtigster Coup dargestellt. Sie dagegen schreiben, der kaum noch bekannte Fall Lischka sei viel wichtiger gewesen. Weshalb?

Serge Klarsfeld: In den Köpfen der Leute gab es diesen Mythos des Nazi-Kriminellen, der nach Südamerika oder in ein arabisches Land flüchtet, wo er Bomben baut, um Juden zu töten. Natürlich haben wir einige am anderen Ende der Welt aufgespürt, Barbie und Brunner zum Beispiel. Die meisten lebten jedoch in Deutschland, tranquille, oft respektiert und mit guten Posten, wie Kurt Lischka. Das war eine grosse Belastung für die deutsch-französischen Beziehungen. Erst als die BRD solche Leute strafrechtlich verfolgt hat, war eine Aussöhnung möglich.

Frau Klarsfeld, Ihre Eltern haben Hitler gewählt, im Krieg musste Ihre Familie vor den Bomben flüchten. War die Vergangenheit in Ihrer Kindheit ein Thema?

Beate Klarsfeld: Nein. Die meisten Deutschen wollten das nicht. Unsere Wohnung war zerbombt, wir teilten Unterkünfte mit anderen Familien, ohne Heizung. Mein Vater musste in den Trümmern arbeiten, Steine sammeln. Beide Eltern waren traurig, ihr Leben war wie vorbei. Wir lebten in einem Quartier, in dem früher viele Juden gewohnt hatten. Darüber hat niemand gesprochen, auch nicht in der Schule. Deshalb bin ich auch nie zum Judentum übergetreten. Als Jüdin oder Französin hätte das, was ich gemacht habe, viel weniger Gewicht gehabt. Eine Jüdin, die Kiesinger ohrfeigt? Gerade in Deutschland hätte man das als Racheakt abtun können.

Um Kiesinger zu entlarven, haben Sie eng mit der DDR-Stasi zusammengearbeitet. Die Zeitung «Welt» deckte 2012 auf, dass Sie für die Ohrfeige 5000 Mark bekamen und einen Artikel in der «DDR Revue» schrieben, in dem Sie vom Sozialismus schwärmen. Haben Sie sich von diesem Regime instrumentalisieren lassen?

Beate Klarsfeld: Unsinn. Um zu zeigen, wer Kiesinger war, mussten wir Dokumente haben. Und die Akten des Propagandaministeriums waren nun mal in Ostdeutschland. Ich wurde dort gut empfangen, auch von Erich Honecker, aber wir haben immer Distanz gehalten. Ich habe Ende der 1960er Jahre in Warschau und in Prag gegen die antisemitischen Kampagnen der Kommunisten protestiert. Ich wurde verhaftet, und die DDR hat uns die Einreise verweigert.

Serge Klarsfeld: Beate hat denen viele Probleme gemacht, das steht auch in den Stasi-Akten, die wir gesichtet haben. Im Osten galten wir als Agenten der CIA, im Westen als Spione des KGB. So war das halt damals. Als ich nach Ostberlin gegangen bin, um Dokumente über Kiesinger zu sichten, habe ich denen gesagt: «Ich komme aus Israel zurück, ich bin für Israel, war Freiwilliger im Sechstagekrieg. Wir haben nicht die gleiche Meinung, aber wir haben den gleichen Feind.» Wenn man kämpft, braucht man Verbündete.

Israel ist für Sie eine zweite Heimat, Sie beide sind dort Staatsbürger und haben das Land immer verteidigt. War es schon einmal derart bedroht wie heute?

Serge Klarsfeld: In Israel leben 7 Millionen Juden, und auf der ganzen Welt gibt es Hunderte Millionen Menschen, die ihre Zerstörung wollen. Eine antiwestliche Koalition will Israel schwächen. Es darf keine Schwäche zeigen. Natürlich gibt es in der Bevölkerung Anzeichen von Schwäche, die Leute wollen normal leben. Doch sie begreifen, dass sie in einem existenziellen Kampf sind. Sie sind in einem grossen Ghetto, umgeben von Feinden: Im Norden der Hizbullah, im Süden die Hamas, dazu Iran mit seinen Missiles. Die Israeli wissen, wenn man in das Ghetto eindringt, bringt das den Tod wie während der Shoah. Es wird sehr schwer, diese Prüfung zu bestehen. Wir wissen nicht, was Ende Jahr ist, ob Donald Trump Präsident wird oder Kamala Harris. Die USA sind der einzige wirkliche Verbündete von Israel.

Wer ist besser für Israel: Harris oder Trump?

Serge Klarsfeld: Trump, ganz klar. Für die amerikanische Demokratie ist es vielleicht anders, aber für Israel ist Trump eindeutig der bessere Verbündete.

Denken Sie, dass der Krieg in Gaza richtig ist?

Serge Klarsfeld: Solange sich Russland und die USA nicht einigen, gibt es keine Alternative. Für die israelische Gesellschaft wird es noch gefährlicher, wenn Iran eine Atombombe hat. Die sind fähig, sie auf Israel zu werfen. Es ist ein Kampf gegen den Tod.

Glauben Sie an eine Zweistaatenlösung?

Serge Klarsfeld: Ja, wenn Jordanien sich in Palästina umbenennt. Dazu müsste allerdings die haschemitische Monarchie gestürzt werden, das ist sehr schwierig. Die Hamas sagt: Israel ist unsere Heimat. Für den erobernden Islam – und er ist erobernd – ist ein Zusammenleben mit Israel unmöglich. Ich werde sterben, ohne die Fortsetzung zu kennen.

Sind Sie pessimistisch, was die Zukunft angeht?

Serge Klarsfeld: Ich spüre eher eine totale Unsicherheit. Hätte man 1900 gedacht, dass sich die europäischen Nationen in ein paar Jahren selbst umbringen? Vielleicht gibt es einen Weltkrieg, einen Atomkrieg, was weiss ich. Während des Krieges war ich einmal sehr religiös, habe jeden Tag gebetet, dass mein Vater zurückkommt. Als er nicht gekommen ist, habe ich meine Beziehung mit Gott beendet. Aber falls es ihn gibt, wird er mich hoffentlich freundlich empfangen.

Beate und Serge Klarsfeld, Mémoires, Fayard-Verlag Paris, 2015, 688 S., 26 Euro.

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