Montag, November 25

Das Konzept des deutschen Finanzministers für eine neue Wirtschaftspolitik erzeugt unterschiedliche Reaktionen. SPD und Grüne halten sich zurück, die Union fordert Neuwahlen. Es drängen sich Vergleiche mit dem Ende der sozial-liberalen Koalition 1982 auf.

Das Grundsatzpapier des deutschen Finanzministers Christian Lindner von den Liberalen befeuert seit Freitag erneut Spekulationen über ein baldiges Ende der rot-grün-gelben Koalition in Berlin. Der FDP-Vorsitzende selbst beklagt indes eine Indiskretion. Er habe das Papier nicht veröffentlichen, sondern mit den Partnern intern diskutieren wollen. Es sei durchgestochen worden.

Lindner skizziert in dem Papier, wie er und die FDP Deutschland wieder auf Wachstumskurs bringen wollen. Dabei möchte er politische Projekte abräumen, die Bestandteil der Koalitionsvereinbarung sind. Dazu zählt eine Streichung des Tariftreuegesetzes, das ein wichtiges Anliegen der SPD ist, und des Lieferkettengesetzes, das auch den Grünen wichtig ist. Mehr als diese Punkte gelten zwei weitere Aspekte in dem Papier den Partnern als Provokation. Lindner will die Klimaziele streichen und die Asylleistungen reduzieren. Das eine ist mit den Grünen, das andere mit der SPD nicht zu machen.

Auffällig ist gleichwohl, dass die Reaktionen der Regierungspartner bis Samstagmittag vergleichsweise moderat ausfielen. Der neue SPD-Generalsekretär Matthias Miersch schien die Debatte jedenfalls nicht weiter anfachen zu wollen. Der Kanzler habe die Stabilisierung des Wirtschaftsstandorts Deutschland zur Chefsache gemacht, erklärte er gegenüber den Funkemedien. Nach dem Wirtschaftsminister bringe nun auch der Finanzminister seine Vorschläge in die Debatte. Wichtig sei jetzt, dass der Prozess konstruktiv und lösungsorientiert von allen Beteiligten begleitet werde.

«Brauchen keine Opposition in der Regierung»

Der «Spiegel» zitiert den arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Sprecher der SPD, Martin Rosemann, mit den Worten, es würden jetzt keine Papiere gebraucht, sondern gemeinsames Handeln, um der Industrie schnell zu helfen und Sicherheit zu geben. «Vor allem brauchen wir keine Opposition in der Regierung.» Sein Parteikollege Nils Schmid sprach von «neoliberaler Phrasendrescherei». Die FDP bleibe Antworten auf die drängenden Fragen schuldig, etwa wie Industriearbeitsplätze bewahrt werden könnten. Schmid stammt aus Baden-Württemberg, wo seit einiger Zeit bis zuletzt äusserst erfolgreiche Unternehmen, etwa im Maschinenbau, Kurzarbeit angemeldet haben.

Auch die Reaktionen der Grünen fallen eher zurückhaltend aus. Parteichef Omid Nouripour sagte, die Grünen seien jederzeit bereit, ernst gemeinte Vorschläge der Koalitionspartner zum Wohle des Landes zu diskutieren. Zum Ergebnis komme man am Ende dann, wenn die Vorschläge der Ernsthaftigkeit der Lage gerecht würden. Sein Parteikollege Andreas Audretsch meinte, Lindners Papier sei eine «Nebelkerze», der Finanzminister solle sich besser um den Haushalt kümmern. Audretsch ist stellvertretender Fraktionschef der Grünen im Bundestag.

Die Opposition im deutschen Parlament kommt erwartungsgemäss zu einer anderen Einschätzung. Es werde Zeit, dass die Regierung endlich den Weg zu Neuwahlen frei mache, äusserte der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Thorsten Frei. Er nannte Lindners Konzept die «ultimative Scheidungsurkunde» für die Koalition.

FDP: Es gehe nicht um den Erhalt der Koalition

Darauf lassen auch Äusserungen von Frank Schäffler, Bundestagsmitglied der FDP, am Samstagmorgen im Deutschlandfunk hindeuten. Mit Blick auf die entscheidenden Verhandlungen über den Bundeshaushalt in den kommenden zwei Wochen sagte er, «wir brauchen einen Haushalt, der gleichzeitig mit Veränderungen der Wirtschaftspolitik einhergeht». Es werde nur einen Haushalt geben, wenn sich die FDP «da in irgendeiner Weise stärker durchsetzt».

Schäffler äusserte weiter, dass eine Abschaffung des Solidaritätszuschlags, wie von Lindner gefordert, «kommen muss». Grüne und SPD lehnen das kategorisch ab. Auf die Frage, ob ein Festhalten der FDP an den Forderungen von Lindner nicht den Fortbestand der Koalition gefährde, sagte Schäffler: «Es geht nicht um den Erhalt der Koalition.» Sie sei kein Selbstzweck, sondern es müsse darum gehen, dass Deutschland vorankomme und das Aufstiegsversprechen erneuert werde. «Das ist für uns entscheidend und nicht, mit wem wir aktuell eine Koalition bilden.»

Nicht nur über die Interpretation von Lindners Papier gibt es unterschiedliche Ansichten, sondern auch darüber, wie es den Weg an die Öffentlichkeit gefunden hat. Der liberale Finanzminister beklagte am Freitag eine Indiskretion. Er hätte es zunächst nur im engsten Kreis der Regierung beraten wollen. Der «Bild-Zeitung» gemäss habe Lindner sein Konzept nur an Bundeskanzler Olaf Scholz von den Sozialdemokraten und an Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen verteilt. Lindner selbst habe der SPD am Freitag versichert, dass er das Papier nicht geleakt habe. Zuerst hatte der «Stern» darüber berichtet.

Weiteres Gift im Verhältnis der Koalitionäre

Dieser mögliche Vorgang der Indiskretion ist dazu angetan, weiteres Gift in das ohnehin schwer zerrüttete Verhältnis der Koalitionäre zu schütten. Zugleich werden Erinnerungen an ein Geschehen wach, das heute von der FDP als «entscheidende Wendemarke in der bundesdeutschen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik» beschrieben wird. Im Jahr 1982 hatte der damalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff von den Liberalen ein «Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit» vorgelegt. Es wird oft als das Scheidungspapier der sozial-liberalen Koalition aus SPD und FDP gesehen.

Mit diesem Konzept war ein Konflikt vollends zum Ausbruch gekommen, der von Beginn an in der Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und Liberalen geschwelt hatte. Auch damals war es in Deutschland schon Jahre vorher zum Ende eines langanhaltenden Wirtschaftsbooms gekommen. Lambsdorff gehörte zu den ersten, die die langfristigen Folgen dieser Entwicklung erkannten und durch eine straffere Haushaltsführung und Einsparungen gegensteuern wollten. Die SPD lehnte das ab.

Als sich die Lage Anfang der 1980er Jahre zuspitzte, legten die Liberalen nach Aufforderung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt ihr Konzept vor. Es sah unter anderem eine Konsolidierung des Haushaltes, Anreize zu Investitionen in Arbeitsplätze, die Eindämmung der explodierenden Sozialstaatskosten und Deregulierungen vor. Ähnliche Forderungen finden sich heute wieder in Lindners Papier.

Gut eine Woche nachdem das Lambsdorff-Papier öffentlich wurde, kündigte Bundeskanzler Schmidt im September 1982 die sozial-liberale Koalition auf. Die FDP-Minister traten zurück. Im Bundestag kam es zu einem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Schmidt, in dessen Folge das Parlament den CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl an der Spitze einer Koalition der Union mit der FDP zum neuen Bundeskanzler wählte.

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