Sonntag, September 29

Kann man eine vielfache Vergewaltigung verarbeiten? Die Französin Neige Sinno versucht es, indem sie darüber schreibt und Fragen stellt.

Dieses Buch ist eine Zumutung, keine Frage – für die Autorin selbst, die 1977 in den französischen Alpen geborene Neige Sinno, und für die Leserinnen und Leser. Denn «Trauriger Tiger» erzählt von furchtbaren Verbrechen, die man Sinno in ihrer Kindheit antat und die nun, Jahre danach, in einem qualvollen, mutigen Prozess heraufbeschworen werden.

Neige – das Schneeweisschen des Märchens – und ihre Schwester Rose werden früh mit der Trennung ihrer Eltern konfrontiert. Ihre Mutter findet rasch einen neuen Partner, einen charismatischen, vor Virilität strotzenden und zum Jähzorn neigenden Bergführer von Mitte zwanzig. Mit ihm bekommt sie bald zwei weitere Kinder und lebt in völliger Ahnungslosigkeit darüber, was ihrer Tochter Neige angetan wird. Deren Stiefvater will allen vier Kindern gerecht werden, doch Neige weigert sich, ihn «Papa» zu nennen und ihm Zuneigung entgegenzubringen. Diese Zurückweisung erträgt er nicht und schickt sich an, Neige dadurch auf perverse Weise zu bestrafen, dass er sie zu sexuellen Handlungen zwingt.

Die Tortur beginnt, als Neige, ein unscheinbares Mädchen, sieben oder acht ist, und zieht sich über Jahre hin. Ohne sich jemandem anvertrauen zu können, erduldet sie, wie ihr Stiefvater sie mitunter mehrfach am Tag vergewaltigt. Erst als Neige Anfang zwanzig ist und sich längst aus dem Horrorhaus, einer baufälligen Ruine, gelöst hat, offenbart sie sich ihrer perplexen Mutter. Mit ihrer Unterstützung zeigt sie den Täter an – nicht zuletzt, um andere Kinder vor dessen Übergriffen zu schützen.

Tatsachen statt Literatur

Neige Sinno ist eine promovierte Literaturwissenschafterin, die heute in Mexiko lebt und lehrt. Lange hat sie darüber nachgedacht, in welcher Form sie sich an ihre Qualen erinnern kann. Dieses Nachdenken integriert sie konsequenterweise in ihren Text, der eine nie abgeschlossene Annäherung an das Trauma bleibt. Als Therapie kann sie ihr Schreiben nicht begreifen, und ebenso klar ist ihr, dass der herkömmliche Roman dafür ungeeignet ist, das Geschehene angemessen darzustellen und zu verarbeiten. Sie muss den «geschützten Bereich der Fiktion» verlassen und nennt ihr Buch ein «Memoir», das nicht «konstruiert» wirken soll, «da es sich um ein Zeugnis handelt und nicht um grosse Literatur».

Für diese Zurückweisung des Literarischen findet Neige Sinno in der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, ihrer Landsfrau, eine Kronzeugin. Deren Bücher – «Erinnerung eines Mädchens» etwa, das von einer Vergewaltigung in einem Landschulheim erzählt – misstrauen fiktionalen Mitteln. In ihrem Schreiben, heisst es in Ernaux’ «Eine Frau», wolle sie «unterhalb dessen bleiben, was gemeinhin als Literatur gilt».

Daran knüpft Sinno an und collagiert einen Text, der Zeitungsausschnitte, Gerichtsprotokolle und wissenschaftliche Studien mit den immer neu einsetzenden Beschreibungen der weit zurückliegenden, aber immer wieder hochkommenden Erinnerungen an die Greuel verknüpft.

Auch die Literatur bildet einen wichtigen Referenzpunkt. Neben Ernaux stehen Virginia Woolf, Toni Morrison oder Emmanuel Carrère im Zentrum der Auseinandersetzung. Und natürlich dient auch Vladimir Nabokovs «Lolita» als Folie, dieser durch den «Filter des Raubtiers», wie es hier heisst, erzählte Roman, dem Sinno eine feinsinnige liebevolle Interpretation widmet. Ausserdem ist der Titel ihres Buches voller intertextueller Bezüge. Er verweist auf Margaux Fragosos von einer Missbrauchserfahrung handelnden autobiografischen Roman «Tiger, Tiger» und auf William Blakes Gedicht «Der Tiger».

Fragen ohne Antworten

So ist Sinnos Buch ein permanentes Ringen: mit den eigenen Erinnerungen, mit der Frage, wie die Ichs ihrer Lebensphasen miteinander verbunden sind, und natürlich mit den Auswirkungen des Prozesses gegen den geständigen Stiefvater. Dass dieser vor Gericht Fürsprecherinnen findet, die dem sympathischen, tatkräftigen Mann Achtung entgegenbringen, ist schwer zu ertragen – genauso wie der Umstand, dass er als Vorzeigegefangener von den neun Jahren Haft nur fünf tatsächlich absitzen muss und danach sofort eine neue Familie gründet.

«Trauriger Tiger» ist ein überzeugendes Buch, weil seine Offenheit bis zum Schluss durchgehalten wird und seine Verfasserin nie um Mitleid heischt. Und es ist ein kluges Buch, weil Sinno über die gesellschaftlichen Implikationen von Vergewaltigungstaten reflektiert. Was heisst es, dass in den 1970er und 1980er Jahren vielerorts Pädophilie entkriminalisiert werden sollte? Warum geht die Gesellschaft mit Opfern freundlicher um, die – anders als Neige Sinno – keinen Fuss mehr auf den Boden bekommen und nicht zu einem neuen Leben aufbrechen können? Mit welchen Folgen haben Vergewaltigte im Nachhinein zu kämpfen; sind sie anfälliger für Krankheiten? Und warum legen Täter wie Neiges Stiefvater so grossen Wert darauf, dass ihre Opfer bei den Vergewaltigungen zum Orgasmus kommen? Und geht es ihnen letztlich gar nicht um Sex, sondern um Herrschaftsausübung?

Diese Fragen stellt Neige Sinno unerbittlich, ohne sich zu schonen. Sie gibt keine Antworten – weil es keine geben kann.

Neige Sinno: Trauriger Tiger. Aus dem Französischen von Michaela Messner. DTV, München 2024. 302 S., Fr. 34.90.

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