Mittwoch, Oktober 9


Stilkritik

Seit 1988 gewinnt die Schweiz zum ersten Mal den Prix d’ Eurovision. Hat das Outfit von Nemo bei der Entscheidung in Schweden wohl eine Rolle gespielt? Die Farbwahl lässt auf jeden Fall tief blicken.

Jedes Jahr wird aufs Neue diskutiert, was für einen Sieg beim ESC ausschlaggebend ist. Der Song? Die Stimme? Die Nationalität? Die Performance? Das Outfit? Alles zusammen? Sicher ist: die Kleiderwahl wurde im Laufe der Jahre immer wichtiger. Sangen Lys Alissa und Céline Dion die Schweiz noch in Abendgarderobe zum Sieg, treten die meisten Teilnehmenden heute mehr oder weniger verkleidet auf.

Das ursprünglich geplante Kostüm des Schweizer Acts Nemos, von der schwedischen Designerin Lehna Edwall entworfen, gab viel zu reden. Zu flauschig. Zu wuchtig. Das waren noch die harmloseren Kommentare. Bei der Generalprobe zum Halbfinale zeigte Nemo dann überraschend ein neues ESC-Kostüm, in dem Nemo für die Schweiz antrat. Es ist auch nicht unbedingt alltagstauglich – selbst wenn man berücksichtigt, dass Nemo insgesamt einen exaltierten Stil pflegt.

Nun gerüscht statt gefedert, im rosa Rock und passend geschmückten Sneakers legte Nemo dann mit dem Song «The Code» einen energiegeladenen Auftritt hin, der Nemo den Sieg einbringt mit 591 Punkten.

Klare Geschlechtertrennung

Laut Kostümdesignerin Edwall wollte Nemo unbedingt Pink tragen. Das macht Sinn. Die Farbe ist untrennbar mit der Frage nach Geschlechteridentitäten verknüpft, ein Thema, das für die nonbinäre Person Nemo eine Rolle spielt und auch Thema ihres Liedes «The Code» ist. Und: Pink gehört zu den interessantesten Modefarben.

Ihre Karriere begann sie als Rosa. Galt aber dennoch – konträr zum heutigen Mädchenfarben-Klischees – bis in unser Jahrhundert als Männerfarbe; roséfarbene Hemden im klassischen Businesslook zeugen noch davon. Der Ursprung: das schwer zu beschaffene Purpur war die Farbe der Könige, auch galt Rot als kräftigere und deshalb männlichere Farbe. Das sanfte Blau, das die Jungfrau Maria trägt, wiederum gehörte zu den Frauen.

Und Pink? Das ist Rosa mit einem Schuss Blau, also strenggenommen ein Violett. In den prächtig ausgestatteten Jahren bis zur Reformation eine Unisex-Stofffarbe unter vielen, wurde es als strahlendes «Shocking Pink» in den 1930er Jahren von der Surrealistin und Modedesignerin Elsa Schiaparelli als ihre Signature-Farbe etabliert. Kriegsgebeutelte Kundinnen lechzten nach der Kraft des Tons; man denke nur an die unvergessene Hommage «Think Pink» aus dem Film «Funny Face» (1957).

Funny Face "Think Pink"

Pink wechselte in den folgenden Jahrzehnten auf die feminine Seite. Dafür werden verschiedene Ursachen vermutet: Blaue Arbeitsbekleidung, nicht zuletzt aus Denim, prägte die Farbe Blau männlich. Insgesamt zeigte sich die Herrenmode immer zurückhaltender, was die Farbgebung anging. Das pinke Barbie-Universum, das sich ab 1959 eindeutig an Mädchen richtete, zementierte die Geschlechtertrennung endgültig.

Laut, frech, kampfeslustig

Die Farbe Pink galt nun nach wie vor als die laute, freche Schwester von Rosa, zugleich aber auch als eben so wenig ernstzunehmende Mädchenfarbe. Die Frauenbewegung wählte sie bewusst während der grossen Demonstrationen ab 2017 als Symbolfarbe, trug sie als «Pussy Hat» und besetzte sie so neu als starke, durchaus kampflustige Farbe.

Eine neue Generation von Männern, angeführt von fluiden Stilvorbildern wie Harry Styles und Timothée Chalamet, zeigt sich ebenso gerne in der klischeebehafteten Farbe, wie alle jene, die beweisen möchten, dass sie sich ihrer Männlichkeit ganz sicher sind wie Rapper und Fussballstars. Der «Barbie»-Film tauchte bekanntlich ganze Kinosäle in Pink. Verfestigte aber trotz all seiner feministischen Ansprüche eher die altmodische Konnotation des Tons.

Mehrdeutige Botschaft

Aktuell ist Pink also so schwer lesbar wie selten in seiner Geschichte. Diese mehrdeutige Botschaft scheint Mannsbilder alten Schlags umso mehr zu verunsichern, wie man erst vor kurzem beobachten, als der DFB (Deutscher Fussball-Bund) ein pink/violettes Auswärtstrikot lancierte. Das Geschrei im Netz ebbte lange nicht ab. Trotzdem – oder gerade deswegen – verkaufte sich das Sporthemd laut Herstellerin Adidas prächtig.

Ebenso polarisierte Nemo im ersten Kostüm, das rund eine Woche vor dem grossen Auftritt der Öffentlichkeit präsentiert wurde. «Mir gefällt alles ausser dem Kostüm», «Nemo sieht aus wie ein Kind, das den Kleiderschrank seiner Mama plünderte und sich alles in Pink anzieht», «Du musst dein Flamingo-Outfit wechseln, sorry, aber es ist schrecklich» – so lauteten die heftigeren Kommentare auf Instagram. Gesagt. Getan. Aber Nemo ist bei Pink geblieben. Das hat Glück gebracht.

Exit mobile version