Mit seinem Lied «The Code» hat der Bieler ESC-Gewinner Nemo ein Statement für die Anerkennung von nonbinären Personen abgegeben. Er hofft nun, dass auch die Schweiz ein drittes Geschlecht zulassen wird. Doch die Auswirkungen wären enorm.
Das Konzept von Frau und Mann ist mächtig. So mächtig wie ein binärer Code, der nur 0 und 1 kennt. Nemo, der am Samstag mit seinem Lied «The Code» den Eurovision Song Contest (ESC) in Malmö gewonnen hat, hat die Welt der Nullen und Einsen hinter sich gelassen. Vor einem Jahr erklärte er sich als nonbinär. Er sei weder Mann noch Frau.
Doch der Bieler will mehr als persönliche Emanzipation. Er will, dass sein Land nichtbinäre Personen öffentlich anerkennt. Denn in der Schweiz kann man zwar seit ein paar Jahren selbst wählen, ob man sich als Mann oder Frau registrieren lassen will, aber es gibt offiziell kein drittes Geschlecht. In einem Brief an den Bundesrat, den Nemos Gleichgesinnte mithilfe der Unterschriftensammelplattform We Collect geschrieben haben, fordern mehr als 4000 Personen, dass auch die Schweiz «die gesetzlichen Grundlagen für eine nonbinäre Geschlechtsidentität schafft».
Die Gesetzeslage ist klar binär
Er werde, sagte Nemo nach seinem Sieg am Samstag, als Erstes Justizminister Beat Jans anrufen, um die Debatte über ein drittes Geschlecht in Gang zu bringen. Im Umfeld des ESC, der den Geschlechtscode schon vor vielen Jahren geknackt hat, wirkt das Begehren wie eine Selbstverständlichkeit. Weshalb also kennt die Schweiz, wo man sich seit 2022 unbürokratisch zu Mann oder Frau erklären kann, kein drittes Geschlecht?
Zum einen, weil das geltende Gesetz ein drittes Geschlecht oder die Streichung des Geschlechtseintrags aus dem Personenstandsregister nicht zulässt. So entschied es das Bundesgericht im Juni vor einem Jahr. Es hatte sich mit einem Urteil des Aargauer Obergerichts zu befassen, das 2021 die Streichung der Geschlechtsangabe gutgeheissen hatte. Das Bundesamt für Justiz legte dagegen Beschwerde ein.
Nun könnte man, wie dies Nemo und seine Gleichgesinnten fordern, die Gesetze grundsätzlich so ändern, dass die Einführung eines dritten Geschlechts möglich wäre. Allerdings wäre der Aufwand, wie der Bundesrat im Dezember 2022 als Antwort auf entsprechende Vorstösse im Nationalrat darlegte, enorm. Die schweizerische Rechtsordnung beruhe – basierend auf einer jahrhundertelangen gesellschaftlichen Tradition – auf dem binären Geschlechtsmodell.
Bei einer Ergänzung um ein drittes Geschlecht müssten Erlasse auf jeder Gesetzesstufe – von der Bundesverfassung bis zu Verordnungen – angepasst werden. Erschwerend dazu kommen die Bestimmungen zu Militärdienst- und Schutzdienstpflicht oder das Sozialversicherungsrecht. Letzteres unterscheidet nicht nur bei der Alters- und der Witwenrente zwischen Mann und Frau, sondern auch in Fällen von Erwerbsausfall, Arbeitslosigkeit oder Mutterschaft.
Bundesrat Beat Jans, der einem Treffen mittlerweile zugestimmt hat, kennt die Hürden. Er war der Initiant eines neuen Gleichstellungsgesetzes, das das Basler Kantonsparlament Anfang Jahr verabschiedet hat. Ursprünglich war offenbar angedacht, die Kategorien von «Binarität und Heteronormativität» abzuschaffen. Doch nach vehementen Protesten (unter anderem von Feministinnen) begnügte man sich damit, den Begriff der Gleichstellung von Frauen auf intersexuelle, nonbinäre, homosexuelle oder bisexuelle Personen auszuweiten.
Die Gesellschaft ist nicht bereit
Eine Lösung für Menschen, die sich weder als Männer noch als Frauen verstehen, bietet allerdings auch das neue Basler Gesetz nicht. In der Schweiz können die Menschen zwar wählen, als was sie gelten wollen. Aber wählen müssen sie.
Ob die Schweizer Gesellschaft bereit wäre für ein drittes Geschlecht, ist deshalb zweifelhaft. Auch die Nationale Ethikkommission hält in einem Bericht fest, dass die heutige Regelung unbefriedigend sei. Vor einer Änderung müssten aber erst die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Aufgabe des binären Geschlechtermodells geschaffen werden.
Solange der Staat unterschiedliche Pflichten und Privilegien für die Geschlechter kennt, ist eine echte Lösung unwahrscheinlich. Gleichbehandlung für alle brächte allein eine radikalliberale Lösung: die Abschaffung aller Geschlechter.