Vor neun Monaten gewann Nemo für die Schweiz den Eurovision Song Contest. Nun folgen auf den Freudentanz anscheinend Lähmungserscheinungen. Oder bleibt Nemo bloss einer bewährten Strategie treu?
«Ich bin aufgewacht, und das war nicht alles nur ein Traum?», schrieb Nemo nach dem Schweizer ESC-Sieg im Mai auf Instagram. Nein, ein Traum war es nicht. Was nicht heisst, dass die Sache nicht zum Albtraum werden könnte.
Ende Jahr lief Nemos Vertrag mit dem Zürcher Management Capitano Music aus. Wessen Wunsch es war, den Vertrag nicht zu verlängern, ist unbekannt. Fest steht nur: Nemo sucht nun in London ein neues Management. Zudem wurde laut den Tamedia-Zeitungen Nemos gesamte Band ausgetauscht. Grund dafür seien Sparmassnahmen.
Im Oktober erschien zwar die Single «Eurostar», die sich durchaus am Gewinnerlied «The Code» messen lassen kann, das dazugehörige Album allerdings steht noch aus. Und jetzt auch das noch: «Hello Loves», schreibt Nemo auf Instagram, «schweren Herzens muss ich euch mitteilen, dass ich meine diesjährige Europatournee verschieben muss. Die Termine wurden auf Ende Oktober bis Dezember verlegt.»
Ein Weltstar, bitte
Nun machen sich Ungeduld und Sorge breit – zumindest in der Schweizer Medienlandschaft. Beim «Blick» ist man «irritiert» von Nemos Karriereverlauf seit Malmö, die «Weltwoche» erklärt irgendwo zwischen Schadenfreude und Erleichterung: «Eintagsfliege Nemo: Warum der nonbinäre Zauber verflogen ist», und beim «Tages-Anzeiger» versucht man es mit einem bereits etwas verzweifelt klingenden Rat: «Will man aus der Aufmerksamkeit, die der grösste Musikwettbewerb der Welt so mit sich bringt, noch irgendwie Profit schlagen, dann müsste im Mai – kurz vor dem nächsten ESC – das angekündigte erste Nemo-Album veröffentlicht werden.»
Nemos Post-ESC-Fahrplan wurde mit jenem von Céline Dion, die 1988 den ESC für die Schweiz gewann, und Abba, den Siegern von 1974, verglichen. Bei genauem Hinsehen relativiert der Vergleich den Druck. Dion liess sich für ihr erstes Album nach dem ESC zwei Jahre Zeit. Die erste Single von Abba nach ihrem Sieg beim ESC war ein Flop, einzelne Konzerte ihrer Herbsttournee im gleichen Jahr wurden abgesagt – in Zürich und anderen Städten hatte man schlicht zu wenig Karten verkaufen können.
Tatsächlich sagt das alles nur wenig über Nemos Chancen auf zukünftigen Erfolg aus. Etwas anderes macht der Vergleich mit den Weltstars dafür umso deutlicher: Genau das – richtig grosser Erfolg – wird nun auch von Nemo erwartet. Wohl nicht zuletzt von Nemo selbst. Was folgt auf Weltberühmtheit über Nacht?
Es war eine Befreiung
Nemos Erfolgssong «The Code» ist eine Selbstwerdung in Song-Form, Identitätsfindung mit Rap und Falsett. Darin steckt, wer Nemo war und geworden ist und künftig sein möchte. Was kann überhaupt eine ähnliche Dringlichkeit entwickeln wie die eigene Befreiung?
Das Werk, das nach dem ersten grossen Erfolg kommt, dürfte vielen Künstlern schwerfallen. Schwerer als der Einstand selbst. Denn es gibt einen Unterschied zwischen dem Erfolg, von dem man träumt, und jenem, den man bestätigen sollte. Ersterer ist ein Katalysator, Letzterer kann zur Paralyse werden.
Erfolg kann auch verunsichern, weil alles Neue an dem gemessen wird, was bereits funktioniert hat. Im Fall von Nemo fusst das, was funktioniert, nicht nur auf der eigenen Geschichte, sondern auch auf einem Zeitgeist, der bereits wieder im Wandel begriffen ist.
Der Zeitgeist zieht vorbei
Über Nacht wurden im vergangenen Mai einige zu Experten inklusiver Sprache. «Nein, nicht er oder es, einfach Nemo», korrigierten sie allenthalben, wenn jemand die alte Gewohnheit, Pronomen zu benutzen, nicht überwand. Solche Stimmen werden gerade wieder leiser, während jene, die wie etwa der neue amerikanische Präsident Trump keine Lust auf eine bunte Gesellschaft haben, an Lautstärke gewinnen. Auch das kann verunsichern.
In einem Interview vom vergangenen Sommer sagte Reto Lazzarotto, Inhaber von Capitano Music, nach dem ESC-Sieg habe er gedacht: «Yes, das ist wie ein Olympiasieg!» Aber er habe unterschätzt, wie polarisierend sowohl der ESC als auch Nemo als Person sei. «Wir haben zwar extrem viele schöne Mails und Anfragen erhalten. Es gab leider auch sehr viele negative Reaktionen und Anfeindungen. Dies hat Nemo und unser Team vor eine Herausforderung gestellt. Ich habe nicht immer gut geschlafen, ganz ehrlich.»
Dass Nemo die verschiedensten Erwartungen, eben nicht nur die musikalischen, sondern auch die gesellschaftlichen, erfüllen wollte, zeigt etwa der Austausch mit Bundesrat Beat Jans zur Einführung eines dritten Geschlechts in der Schweiz. Und auch im Studio sei Nemo gewesen, heisst es. Ausser «Eurostar» habe allerdings nichts den hohen Ansprüchen genügt.
«Eurostar» kommt bei Spotify zwar nicht an die Abspielzahlen von «The Code» heran, kann musikalisch aber einigermassen mithalten. Nur: Nemo will mehr als mithalten. «Ich möchte das beste Werk schaffen, das ich je gemacht habe», steht auf Instagram. Dazu ein Bild, das so ganz anders aussieht als die glamourösen Fotografien, die Nemo im Laufe des vergangenen Jahres von sich gepostet hat.
Auf diesem neusten Bild sitzt ein junger Mensch in einem Musikstudio, Beine angewinkelt, Kopf aufgestützt, im Blick etwas Verlorenes. Dahinter reihenweise E-Pianos. Das Bild zeigt Nemo, anders als die vielen davor, ungeschminkt. Im Kapuzenpulli statt mit Tüll oder glänzendem Leder.
Im Text neben dem Bild schreibt Nemo weiter: «Grossartige Dinge brauchen Zeit. Im Wirbelwind nach dem Eurovision Song Contest hatte ich nur etwa drei Wochen Zeit, um neue Songs zu schreiben und zu produzieren, was bei weitem nicht genug ist, um das Album zu machen, von dem ich träume.» Zeit hat Nemo sich schon einmal genommen – entgegen jeder PR-Strategie.
«Es ist huere crazy»
Im Frühjahr 2018 gewann Nemo vier Swiss Music Awards in derart kurzer Folge, dass es zwischen den Preisübergaben gar nicht mehr reichte, um von der Bühne zum Sitzplatz zurückzukehren. «Es geht megaschnell», sagte Nemo, damals 19 Jahre alt, in einer von vier Dankesreden. «Es ist huere crazy», in der nächsten. Krauses Haar, weisse Kapuzenjacke – im Blick auch hier neben der Freude etwas Verlorenes.
Nach dieser Nacht der grossen Preise tat Nemo, wovon jeder Karriereschmied dringend abgeraten hätte: nichts. Statt mit all diesen Auszeichnungen im Arm auf den Eilzug aufzuspringen, Werbeverträge an Land zu ziehen, die nächste Single zu publizieren und die Erfolgswelle zu reiten, nahm Nemo sich eine Auszeit. Sechs Jahre später folgte der Sieg am Eurovision Song Contest.