Mittwoch, Oktober 9

Mit einem royalen Auftritt hat Nemo zu guter Letzt triumphiert. Es war ein Happy End mit Ansage. 2024 ist das Jahr des dritten Siegs für die Schweiz nach Lys Assia und Céline Dion.

Können der Nahostkonflikt und der Krieg in der Ukraine ausgeblendet werden, um den 150 Millionen TV-Zuschauern des Eurovision Song Contest eine Show-Idylle vorzugaukeln, die im schroffen Kontrast zum Leid der zahllosen Opfer steht? Der ESC-Slogan «United By Music» (Vereint durch Musik) fand bereits 2023 in Liverpool Verwendung und ist nach einem Jahr genauso nichtssagend als wie zuvor. Der seichte Kreativwunsch wird fortan gleichwohl jährlich rezykliert.

Dass sich die politischen Dissonanzen auf die Harmonie auswirken, ist bedauerlich für alle, die teilnehmen: die Künstlerinnen und Künstler inklusive der nonbinären Teilnehmenden. Die Diskussionen um den Ausschluss Russlands und die Teilnahme Israels reissen nicht ab, die Leichtigkeit und Unbeschwertheit, welche die ESC-Events bis zum Angriff Russlands ausgezeichnet hat, ist dahin. Den moralischen Sieg der Ukraine auf der Showbühne steckt der Kreml kommentarlos weg und verstärkt die Offensive auf dem Schlachtfeld. Selbst wenn Alyona & Alyona und Jerry Heil mit «Teresa & Maria» gewännen, am Kriegsgeschehen würde sich nichts ändern. Dasselbe gilt für Israel. Würde Eden Golans «Hurricane» die Prognosen der Wettbüros durcheinanderwirbeln, hätte dies keine Auswirkungen auf die Kämpfe in Rafah.

Fast beschleicht einen ein schlechtes Gewissen, wenn man in Anbetracht der anhaltenden Proteste und Demonstrationen sowie der massiven Polizeipräsenz in Malmö Nemo schlicht die Daumen drückt. Doch werden Grossanlässe wie die Fussball-EM oder die Olympischen Spielen ebenfalls durchgeführt, sie abzusagen, hülfe niemandem. Und ist es nicht verständlich, die Augen für ein paar Stunden vor all dem Unglück eine Weile zu verschliessen und sie aufzumachen für eine kurze Flucht ins Unbeschwerte? Die traurige Realität holt uns schliesslich spätestens mit den Morgennachrichten wieder ein.

Disqualifikation von Joost Klein

Aber nicht einmal bis zum Morgengrauen hält sich die Illusion eines Scheinfriedens. Noch vor der Generalprobe am Freitagabend beim Jury-Finale wird Joost Klein, der zu den Mitfavoriten gezählt wurde, davon ausgeschlossen, weil er gegenüber einer Produktionsmitarbeiterin gewalttätig geworden sein soll, er habe sie geschlagen. Der Fachjury obliegt die Bewertung der künstlerischen Darbietungen am Vorabend der Hauptvorstellung. Da der 26-jährige Niederländer nicht teilnehmen durfte, hat die Jury dessen Auftritt im Semifinal zum Massstab genommen. Mittlerweile ermittelt die Polizei, und es steht gar die Möglichkeit einer Disqualifikation im Raum. Am Samstagmittag vermelden diverse Medien tatsächlich den definitiven Ausschluss von Joost Klein durch die ESC-Veranstalterin, die Europäische Rundfunkunion (EBU). Der niederländische TV-Sender Avrotros behauptet, Joost habe die Kamerafrau nicht berührt. Wie dem auch sei, der Beschuldigte ist definitiv aus dem Rennen, das letzte Wort in dieser höchst unerfreulichen Sache vermutlich nicht gesprochen. Die Meldungen jagen sich am Samstag. So hat Irland offenbar nicht an der Generalprobe teilgenommen. Ein einmaliges Tohuwabohu.

Der Welt grösster Musikwettbewerb startet pünktlich, was beinah schon an ein Wunder grenzt. Die Nummer fünf, Joost Klein, läuft nicht ein, Bambie Thug mit Nummer 10 hingegen ist im Wettbewerb verblieben. Die Schweiz hat die Nummer 21, Baby Lasagna die 23. Kaleen aus Österreich wird den Abend mit der Nummer 25 beschliessen. Die Gastgeberinnen, Malina Akerman in Weiss und Petra Mede in Schwarz, begrüssen das Publikum in der Malmö Arena und jenes vor den TV-Bildschirmen. «May the best song win», wünscht die vielseitige Petra Mede, die einmal Background-Tänzerin bei Céline Dion war, bevor sie wegen Rückenproblemen ins komische Fach wechselte. Es geht los mit Schweden. Das Televoting ist eröffnet.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass sich eine Art von Déjà-vu bzw. Déjà-écouté einstellt, die Songs sind dieselben wie in den beiden Halbfinals, geändert haben sich die Kameraeinstellungen. Isaak strebt mit «Always on the Run» endlich eine bessere Platzierung für Deutschland an. Eden Golan ist als Sechste dran, Israel polarisiert, aber ein veritabler Eklat bleibt aus. Bis zur Punktevergabe ist es noch eine ganze Weile hin.

Nach dem Beitrag Litauens wird die 92-jährige Karin Falck, die 1975 den ESC moderiert hat, live aus Stockholm zugeschaltet. Es sei alles viel grösser und bunter geworden. Auch das Frauenbild hat sich gewandelt. Bei Spanien gibt die Blondine den Ton an, die beiden Tänzer übernehmen in Lack und Mieder auf High Heels die Rolle, die früher den Gogo-Girls zugedacht war. Nebulossas «Zorra» erhält viel Zuspruch. Das täuscht über das Schlussresultat hinweg.

«Doomsday Blue» von Bambie Thug spaltet das Publikum optisch wie stimmlich. Die zweite nonbinäre Person neben Nemo inszeniert sich morbid-monströs mit Gothic-Metal-Einschlag. Reine Schlagerfans werden die eigenwillige Darbietung schwerlich mit dem Punktemaximum belohnen. «Dizzy», buchstäblich schwindlig, macht das auf den Kopf stellende Bühnenbild von Grossbritanniens Olly Alexander (BBS strahlte im Vorfeld den Film «Growing Up Gay» aus).

Vital in Erinnerung geblieben ist die Glam-Rock-Band Maneskin, die 2021 sowohl beim Festival in Sanremo als auch beim ESC mit «Zitti e buoni» den ersten Platz belegte. Ob Angelina Mango mit «La noia» dieses Kunststück wiederholen kann, ist für Italien eher zweitrangig, es schätzt Sanremo von jeher selbstbewusst höher ein als den europäischen Wettbewerb. Noch nie zu gewinnen vermocht hat Armenien. Ladanivas folkloristischer Titel «Jako» verweigert sich Klubmusiktrends und dürfte sich unter ferner liefen platzieren. Zypern mit der 17-jährigen Silja erinnert nicht nur punkto Choreo an Britney Spears, und dann ist es so weit.

Die ESC-Drehscheibe

Nemo balanciert artistisch auf der tricky Drehscheibe, hinterlässt wie bereits in der Qualifikation einen starken Eindruck. Die Performance ist eines Sieges würdig, doch zum Triumph verhelfen kann Nemo nur eine Mehrheit aus Publikumsstimmen und Stimmen der Fachjury. Der übernächste Teilnehmer ist der kroatische Top-Favorit Marko Purisic alias Baby Lasagna. Sein Beitrag ist bei weitem nicht so kunstvoll wie Nemo, dafür zum Mitjohlen geeignet. «Rim Tim Tagi Dim» hat unleugbar Hitpotenzial, und das 28-jährige Baby versprüht maskulinen Charme mit einem Augenzwinkern.

Slimane, ein Gewinner von «The Voice of France», singt seine schöne Ballade «Mon Amour» mit viel Gefühl aus voller Brust. Düpiert er vielleicht am Ende die Konkurrenz? Kaleen aus Österreich verkörpert mit ihrer Hymne «We Will Rave» quasi das klubtaugliche Gegenprogramm.

Bis es zur Punktevergabe geht, gibt es ein Wiedersehen mit einer Gruppe, die wie Schwedens bekannteste Band, Abba, mit einem A beginnt: Der Retro-Disco-Hit «Crying at the Discotheque» von Alcazar funktioniert noch immer. Abbas schickt die Avatare, um ihren Gamechanger «Waterloo», den Siegertitel von 1974, wiederaufzuführen. Unterstützt werden sie unter anderem von Conchita Wurst in einem bodenlangen Kleid.

Ein Auftakt nach Mass: Die Ukraine gibt der Schweiz zwölf Punkte. Grossbritanniens TV-Ikone Joanna Lumley («Absolutely Fabulous») vergibt die zweithöchste Punktezahl an uns. Und es geht weiter mit Zwölfern! Bei Kroatien geht die Schweiz leer aus, aber mithilfe von Albaniens zwölf Punkten baut die Schweiz die Führung aus. Als Israel zugeschaltet wird, branden Protestrufe auf. Gründlich vertan hat sich der Schreibende bei Estland, das in der hinteren Hälfte landet. Die Liebesballade von Slimane straft dafür die Buchmacher Lügen, die den Sänger mit algerischen Wurzeln nicht auf dem Schirm hatten.

Wie viele Punkte gibt uns Griechenland? Ebenso viele, wie wir den Griechen verliehen haben, deren zwölf! Die Fachjury sieht Nemo ganz klar auf Platz eins. 22 von 37 Ländern haben das Punktemaximum an die Schweiz vergeben. Jetzt kommen die alles entscheidenden Zuschauerstimmen hinzu. Olly Alexander etwa aus Grossbritannien erhält null Punkte! Wird sich Nemo an der Spitze behaupten, oder wählen die Zuseher einen der nächsten Verfolger? Am meisten Zuschauerstimmen sammelt Baby Lasagna, wird aber von Nemo übertroffen und wird Zweiter. Nemo gewinnt, Platz drei belegt Slimane. Die Siegertrophäe empfängt Nemo aus den Händen der Vorjahressiegerin Loreen. Der nächste ESC geht in die Schweiz.

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