Samstag, September 21

KI war lange ein Nischen-Forschungsfach. Nun strömen Unmengen Geld in das Feld. Was das anrichtet, kann man nirgendwo so gut beobachten wie an der jährlichen Konferenz für maschinelles Lernen.

«Shots, shots, shots, shots, everybody!» dröhnt aus den Lautsprechern. Der Rap-Song «Shots» von LMFAO, es geht ums Sich-Betrinken. Aber hier ist niemand betrunken, es gibt keine Shots, und keiner tanzt. Es ist auch nicht 3 Uhr morgens in einer Absteige, sondern 18 Uhr montags an einer wissenschaftlichen Veranstaltung: Eröffnungsabend der internationalen Konferenz für maschinelles Lernen (ICML), die dieses Jahr in Wien stattfindet.

Der Saal A der Messehalle Wien hat mit einem Klub nichts gemein, er ist durch eine Mischung aus Tages- und Neonlicht hell erleuchtet. Die Besucher stehen in Grüppchen zusammen, essen Spätzle mit Sauce von Papptellern und versuchen, sich über die laute Musik hinweg zu verständigen.

Die richtigen Partys, so erfährt man, finden sowieso woanders statt. Journalisten sind nicht eingeladen. Denn der Zweck dieser Partys ist, an KI-Nachwuchs zu kommen. Google, Meta und Microsoft richten sie aus, aber auch Finanzfirmen und Venture-Fonds. Sie alle werben um die jungen Besucher der Konferenz. Denn wer hier seine Arbeit vorstellen darf, gehört zur Elite.

Die ICML ist eine der beiden weltweit führenden Konferenzen für künstliche Intelligenz. Kaum irgendwo sonst kann man so gut beobachten, wie das Geld und die Macht, die der KI-Hype mit sich bringt, die Wissenschaft verändern.

Von 30 auf fast 10 000 Teilnehmer in 40 Jahren

9700 Besucher sind registriert. Wenn man jemand Bestimmten treffen will, schreibt man ihm am besten auf der eigenen Social-App der Konferenz. Dort organisieren Teilnehmende Treffen wie «Chinese@ICML» und «Morning Run». Die Keynotes finden in riesigen Hallen statt. Wie bei einem Pop-Konzert sieht man die Vortragenden auf den Leinwänden besser als in echt.

Der Eröffnungsredner bringt die Stimmung auf den Punkt: «It’s a great time to be in AI», eine grossartige Zeit, um KI zu machen, sagt er mit der ehrlichen Begeisterung von jemandem, der mit seinem Computer-Hobby reich geworden ist. «Risiko-Kapitalgeber sind bereit, alles zu finanzieren.»

1981 fand der erste Workshop zum Thema maschinelles Lernen statt, der Vorgänger der ICML. Er hatte 30 Teilnehmer. Thomas Dietterich war damals schon dabei. Er ist ein freundlicher Amerikaner mit breitkrempigem Sonnenhut, inzwischen siebzig und emeritierter Professor. Seine Zusammenfassung des Wandels, den er in über vierzig Jahren erlebt hat: «Lange hat uns keiner beachtet, jetzt dreht sich plötzlich alles um uns.»

In den 1990ern habe das Feld durch theoretische Fortschritte einen Aufschwung erlebt, erzählt er. Dann passierte lange nichts. Ein paar Hundert Teilnehmer kamen jährlich. «Es fühlte sich manchmal so an, als hätte das Feld den Fokus verloren. Dann kam das Schlüsseljahr 2012», sagt Dietterich.

2012 stellten kanadische Forscher Algorithmen vor, die erkannten, was auf einem Bild zu sehen ist, um Längen besser als alle vor ihnen. Und zwar dank künstlichen neuronalen Netzen. Heute steckt diese Methode in fast allem, was man KI nennt.

«Wir konnten es uns nicht leisten, nicht hier zu sein»

Ab diesem Moment steckten auch Tech-Konzerne immer mehr Geld in die KI-Forschung. Das hat auch die Konferenz verändert. Eine ganze Halle ist für die Jobstände von Firmen reserviert. Die Finanzfirma Jane Street verteilt pinkfarbene T-Shirts, der Stand von Google erinnert an das Design eines Apple-Stores.

Das französische Newcomer-Startup Mistral, das fast aus dem Nichts eine Alternative zu Chat-GPT gebaut hat, ist lediglich mit zwei Barhockern, einem Tisch und einem knallorangen Teppich vertreten, dazu ein paar Werbesticker. Aber die 20 000 Dollar Sponsorengeld für den Ausstellungsplatz und drei Mitarbeiter, aus einem Unternehmen von insgesamt sechzig, haben auch sie investiert: «Wir können es uns nicht leisten, nicht hier zu sein.»

Die Besucher, für die der ganze Aufwand betrieben wird, sehen ganz genau so aus, wie man sich Teilnehmer einer Konferenz zu einem Thema mit starkem Informatikbezug vorstellt: männlich, etwa dreissig, Outdoor-Schuhe und ein Rucksack mit vielen Reissverschlüssen.

Je ein Viertel kommt aus den USA oder Europa, am zweithäufigsten sind Chinesen und Südkoreaner. Zum Frauenanteil nennen die Organisatoren keine Zahl, geschätzt liegt er bei 10 Prozent.

Am Höhepunkt kam der Rapper Flo Rida an eine KI-Konferenz

Die Kombination aus Horden von jungen Nerds und Tech-Firmen, die viel Geld in die Hand nehmen, um sie zu beeindrucken, machte in der Vergangenheit bereits Probleme.

Ab 2015 übertrumpften sich die Firmen gegenseitig mit Partys. Alkohol floss schon am Nachmittag, Weingüter und Aquarien wurden für Feiern gemietet, bei denen knapp bekleidete Frauen Drinks servierten. 2017 buchte die Tech-Firma Intel gar den Rapper Flo Rida für ihre Party bei der KI-Konferenz NeurIPS.

Statt über Wissenschaft diskutierten die jungen Besucher darüber, wer Einladungen zu welcher Party hatte. Und es häuften sich Berichte über sexistische und rassistische Übergriffe vonseiten alkoholisierter Teilnehmer. «Es gab viel Alkohol, es gab viele Probleme», sagt Thomas Dietterich. Die Organisatoren der Konferenzen mussten eingreifen.

Heute wird während der wissenschaftlichen Diskussionen kein Bier mehr serviert, Sponsoren dürfen nur in beschränktem Rahmen Partys organisieren. Für Frauen, Schwarze, Queere und Menschen mit Behinderungen gibt es inzwischen auch Vernetzungsworkshops, unterstützt von der Konferenz.

Thomas Dietterich, der lange in die Organisation involviert war, sagt: «Mit Förderungen für wenig repräsentierte Gruppen kommen wir an Talente, die sonst übersehen würden. Aber es geht auch einfach um Gerechtigkeit.»

Blumenrock als Statement: Auch so kann ein Nerd aussehen

Von der Stimmung auf den heutigen Partys weiss die Doktoratsstudentin Jewgenia Tokartschuk zu berichten. Sie war zu einem eleganten Abendessen und Cocktails von Google Research eingeladen. Von Eskalation keine Spur. Bei einem Lunch-Event unterhielt sich Tokartschuk mit einer Forscherin von Google Deepmind darüber, wie diese Karriere und Familie vereinbart, und über die Kinderbetreuung auf der Konferenz.

«Sehr interessant und motivierend» fand sie das. In ihrem beruflichen Alltag trifft Tokartschuk kaum andere Frauen. Sie befasst sich in ihrem Doktorat in den Niederlanden mit den mathematischen Feinheiten, die tief im Maschinenraum von KI-Übersetzern stecken.

Tokartschuk ist klein und blond, trägt übergrosse Brillen und einen langen, geblümten Rock. Intuitiv würde sie sich lieber anpassen, sagt sie, und Hosen tragen, um nicht unterschätzt zu werden. «Aber es ärgert mich, dass ich so denke. Also tue ich absichtlich das Gegenteil. Nerds können eben auch aussehen wie ich.»

Dass sich Firmen hier so um Nachwuchs bemühten, dass sie entgegen ihrer Erwartung zu den Google-Events eingeladen worden sei, fühle sich gut an, sagt sie. Mit ihrer Forschung zu Sprach-KI liegt sie im Trend, auch wenn sie direkt nicht zum allergrössten Thema der Konferenz forscht: nämlich zu grossen Sprachmodellen wie dem hinter Chat-GPT.

«Large Language Models» sind mit grossem Abstand die häufigsten Schlagworte in den Arbeiten der Konferenz. Die Meinungen dazu gehen weit auseinander. Ein Google-Manager ist überzeugt, dass Programme, die mit Sprach-KI betrieben werden, bald einen grossen Teil der Wissensarbeit übernehmen werden. Tokartschuk und viele andere halten die Hoffnungen für übertrieben. Sie fragen bereits, welcher nach Bildern und Sprache der nächste Bereich sein wird, den KI revolutioniert. Vielleicht Robotik?

Gesellschaftliche Themen werden immer relevanter

Sicher ist, die Konsequenzen werden auf der ganzen Welt spürbar sein. Die Tage sind vorbei, als KI ein rein akademisches Unterfangen war, ein belangloses Teilgebiet der Informatik. Heute bestimmt maschinelles Lernen die Welt: Es steckt in selbstfahrenden Autos, Kreditwürdigkeitsrechnern, Waffen und Bewerbungsportalen.

Doch ist dieser Bereich der Wissenschaft bereit dafür? Dietterich zweifelt daran: «Eine reife Ingenieursdisziplin braucht Sicherheitsmethoden und Risikomanagement. All das fehlt uns.»

Deshalb konnte man sich in diesem Jahr erstmals mit einem «Positionspapier» bewerben, also mit einer Forschungsarbeit, die einen urteilenden Blick auf ein Feld wirft: Was haben die Ansätze der letzten Jahre gebracht? Gehen wir in die richtige Richtung?

Die Vortragenden stellen aber auch unbequeme Fragen, zum Beispiel: Welche Verantwortung hat die Forschungsgemeinschaft in Bezug auf autonome Waffen? Drohen Desinformation oder gar der Roboteraufstand, wenn man Sprachmodelle offen verfügbar macht?

Im Vergleich zu den Vorträgen mit komplizierten Formeln und Simulationen wirken die Beiträge zu diesen Themen aber noch etwas unbeholfen. Man merkt, dass es die theoretischen Ideen von Technikern sind, denen der Austausch mit Fachleuten fehlt.

Und doch, die Vorträge sind gut besucht, die Diskussion ist angeregt. Auch in der App, mit der sich Konferenzbesucher nach Interessen organisieren können, zeigt sich diese Tendenz. Dort liegen drei Themen bei der Zahl der interessierten Nerds nah beieinander: «KI-Sicherheit», «AI in Finance» und «Brettspiele».

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