Die am Kapitalmarkttag vorgestellten Massnahmen und Ziele lesen sich teilweise wie ein Seitenhieb in Richtung des abgetretenen Konzernchefs. Das hat Strategie.
Die Unterschiede sind augenscheinlich: Hier der joviale, kommunikationsfreudige Franzose, dort der spröde wirkende, analytische Deutsche. Hier das Eigengewächs mit einer vierzigjährigen Nestlé-Karriere, dort der erste Externe auf dem höchsten Posten beim weltgrössten Nahrungsmittelkonzern.
Laurent Freixe, seit September CEO von Nestlé, ist so etwas wie der Gegenentwurf zu seinem Vorgänger Mark Schneider.
Und nun legt der Neue dem Publikum einen ersten Entwurf seiner Strategie vor, die sich in vier Punkten wie die Distanzierung vom Alten liest und die als Abrechnung mit der alten Zeit interpretiert werden kann. Nestlé versucht ein neues Kapitel aufzuschlagen.
In Vevey kehrt Realismus ein
Der Konzern aus Vevey schraubt die Ambitionen deutlich zurück. Ausdruck davon ist vor allem das mittelfristige Wachstumsziel: Mit «4% plus» liegt es zwar deutlich höher als was für 2024 erwartet werden darf, aber nur gerade am unteren Rand der bisherigen Mittelfristprognose. Bei der Profitabilität liegt Nestlé heute schon im angestrebten Bereich von «17% plus» für die bereinigte Betriebsgewinnmarge.
Nein, er wolle nicht tiefstapeln, sagt Freixe im Gespräch, die Ziele seien vor allem eines: realistisch. Und die leise Kritik an den bisherigen Vorstellungen ist nicht zu überhören.
Als Schneider 2017 sein Amt antrat, klang das deutlich anders. Auch er strebte eine Wachstumsbeschleunigung von niedrigem Niveau aus an, 2,4% organisches Wachstum in seinem ersten Jahr. Das sollte aber nur der erste Schritt auf dem Weg zu den 4 bis 6% sein, die er mittelfristig für möglich hielt. Gleichzeitig strebte er eine bereinigte operative Marge von 17,5 bis 18,5% an. Und tatsächlich: Getragen von den Sondereffekten der Pandemie wurden auch diese Ziele erreicht.
Nestlé fokussiert auf die eigenen Stärken
Die neue Führung fokussiert sich klar auf die eigenen Stärken. Unter anderem dank bekannter Marken und der dominanten Position will Nestlé das Wachstum ihrer Märkte übertreffen und weitere Anteile gewinnen. Die zugrunde liegenden Kategorien wachsen durchschnittlich 3 bis 4% pro Jahr. Dreissig Bereiche wurden identifiziert, die diese Beschleunigung liefern sollen. Das Schöne daran: Sie sind bereits Teil von Nestlé. Externes Wachstum ist nicht nötig. «Grow what we have» lautet das Mantra. Freixe will, wie er sagt, «das volle Potenzial» aus dem bestehenden Geschäft herausholen.
Von Anfang an setzte Schneider auch auf akquisitorisches Wachstum. Für die Zeit nach der grossen Portfoliobereinigung, bei der zunächst Marken wie Herta abgestossen wurden, kündigte er an, eine Reihe kleinerer und mittlerer Akquisitionen tätigen zu wollen. Mit dem Kauf der Handelssparte von Starbucks für mehr als 7 Mrd. $ im Mai 2018 gelang dem Konzern ein früher transformativer Schritt, der auch das organische Wachstum durch schnelle Innovation in kürzester Zeit beflügelte. Doch gerade im Bereich der Gesundheitsnahrung und Nahrungsergänzungsmittel – Nestlé Health Science – blieb der Erfolg der teuren Zukäufe aus.
Aber auch bei der Finanzierung schaute sich der Konzern unter Mark Schneider und seinem Finanzchef François-Xavier Roger neu um: Das Fremdkapital wuchs deutlich; das Verhältnis von Nettoverschuldung zum operativen Gewinn auf Stufe Ebitda stieg von unter 1 im Jahr 2016 auf zuletzt gegen 3. Gleichzeitig wurden Aktien im grossen Stil zurückgekauft. Mit der aktionärsfreundlichen Politik ist es nun ebenso vorbei, angesichts der hohen Verschuldung bei gleichzeitig niedrigerem Cashflow besteht kaum mehr Spielraum für ein weiteres Rückkaufprogramm.
Nicht nur Kaffee und Tiernahrung, auch Kitkat und Maggi
Ab 2025 wird das Wassersegment aus den Regionen herausgelöst – wieder, möchte man sagen. Was ist der Unterschied zu Nestlé Waters, das bis Ende 2019 noch als eigenständige Geschäftseinheit geführt wurde? Es sei ein globaleres Geschäft, vor allem durch den Verkauf der lokalen US-Marken, sagt Freixe im Gespräch. Und vor allem macht er klar, dass Nestlé die Sparte ins Schaufenster stellen will. Damit ist der Grundstein für mehr Eigenständigkeit bis hin zum Verkauf gelegt. Trotzdem: Es ist auch das Eingeständnis, dass Schneiders Idee, das Geschäft lokaler zu führen, nicht aufgegangen ist.
Die Liste der Produkte, die unter dem alten CEO noch höchste Aufmerksamkeit genossen und nun in den Hintergrund gerückt sind, enthält einige prominente Namen: Nestlé Health Science arbeitet an der Trendwende und bleibt im Konzern, aber die akquisitorischen Abenteuer und damit die grosse Öffentlichkeit sind definitiv vorbei. Fleischersatzprodukte, ein Lieblingsthema Schneiders, spielen in der Kommunikation eine deutlich kleinere Rolle. Frisch und gesund, das war einmal.
Die grossen Wetten, die Big Bets, wie Nestlé sie nennt, liegen heute woanders. Hatte Schneider mit Heimtierprodukten, Kaffee, Wasser und Säuglingsnahrung zunächst vier global schnell wachsende Kategorien ausgemacht, ruhen die Wachstumshoffnungen nun auch auf Chocobakery oder Fertigprodukten für den Airfryer. Sie gehören ebenso wie San Pellegrino oder Purina zu den dreissig Marken mit überdurchschnittlichem Potenzial.
Das ist streng genommen nicht neu, denn schon Schneider hatte erkannt, dass Marken in weniger populären Bereichen wie Maggi bei Fertiggerichten und Kitkat und lokale Marken bei Süsswaren ein erhebliches Wachstumspotenzial haben – das heute zum Teil schon realisiert wird. Doch erst mit Freixe wurde die Rhetorik geschärft. Der neue CEO zeigt keine Angst vor Umsatzeinbussen durch Gesundheitstrends oder mögliche US-Zölle.
Mit Charme und Überzeugung gegen Zweifler
Bei den bisherigen Präsentationen und Begegnungen wirkte Freixe locker, er erzählt gerne und viel. Der Inhalt ist selten so informativ und präzise formuliert, wie bei Schneider, wo auch nach stundenlangen Anlässen noch jedes Wort sass. Doch der Charme scheint intern gut anzukommen. Die Mitarbeitenden scheinen vom Führungswechsel positiv überrascht, viele schätzen, dass mit dem 62-Jährigen ein langjähriger Kenner das Ruder übernommen hat.
Schneiders analytische Fähigkeiten und seine klare Kommunikation kamen am Finanzmarkt anfangs sehr gut an. Doch in den letzten Monaten hatte das Verhältnis stark gelitten. Der 59-Jährige wirkte zunehmend müde und gealtert. Zu lange hielt er an seiner Strategie und seinen Zielen fest. So lange, dass sich Freixe heute mit aller Kraft davon distanzieren muss, in der Hoffnung, mit seiner Überzeugung vom Potenzial Nestlés auch die Zweifler am Finanzmarkt mitreissen zu können.
In einem Punkt sind die beiden Manager sehr ähnlich: Sie wollen schnelle Resultate sehen. Während man verlorengegangenes Geschäft zurückerobern könne, arbeite die Zeit stets gegen einen, sagt Laurent Freixe nach seinem ersten Auftritt als CEO am Kapitalmarkttag von Nestlé. Mark Schneider würde ihm wohl zustimmen.