Mittwoch, Oktober 2

Der weltgrösste Nahrungsmittelkonzern steht unter Druck: Seit einigen Quartalen stockt das Wachstum, der Trend an der Börse zeigt nach unten. Und nun soll ausgerechnet die zuletzt enttäuschende Gesundheitssparte für frische Impulse sorgen. Was das für Investoren bedeutet.

Es ist ein Chart des Grauens. Seit dem Höchst bei knapp 130 Fr. Ende 2022 kennt der Aktienkurs von Nestlé nur eine Richtung: nach unten.

Und dies, obschon die Investoren in den vergangenen Jahren immer und immer wieder auf Besserung gehofft – und gesetzt – haben. Vergebens. Auch seit Jahresbeginn 2024 resultiert inklusive Dividende eine Nullperformance, während der marktbreite Swiss Performance Index, trotz grossem Nestlé-Gewicht, immerhin 1o% gewonnen hat.

Die klare Trendumkehr ab 2023 ist bemerkenswert, genoss der weltgrösste Nahrungsmittelkonzern und insbesondere sein CEO Mark Schneider davor doch ein sehr positives Image. Nach Schneiders Antritt im Januar 2017 schien zunächst alles zu gelingen: Dank schneller operativer Verbesserung und der Transformation des Produktportfolios bis 2020 meisterte der weltgrösste Lebensmittelkonzern die Pandemie mit Bravour und behielt selbst während der Hochinflationsphase und trotz Einschränkungen bei den Lieferketten zunächst Oberwasser. Nestlé war agil und immer einen Schritt voraus.

Zwar lastete auch das Ende des euphorischen Börsenhochs nach der ultralockeren Geld- und Fiskalpolitik auf Nestlés Aktienkurs. Und seit Anfang dieses Jahres wiederum sind defensive Titel wenig gefragt. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gruppe aus dem Tritt geraten zu sein scheint: Pandemie, Inflation, Konsumflaute – die Krisen hat Nestlé gemeistert, doch jetzt fehlt ein neuer Impuls. Hinzu kamen negative Presseberichte, sei es zu verunreinigten Wasserquellen in Frankreich oder Kontroversen um Lebensmittel mit beigefügtem Zucker in Afrika.

Nochmals eine solche Enttäuschung wie zum ersten Quartal, als die Wachstumserwartungen deutlich verfehlt worden sind, kann sich das Management wohl kaum leisten. «Das war nicht die Exzellenz, die man sonst von Nestlé gewohnt ist, jetzt muss sie liefern», sagt Jean-Philippe Bertschy, Leiter Research Schweizer Aktien bei der Bank Vontobel. Die Reaktion der Börse hält er gegenwärtig indes für zu extrem. Obschon Schneider am vergangenen Donnerstag an einem Anlass der US-Grossbank JPMorgan lediglich die Ziele für das laufende Jahr bestätigte und damit seine Aussagen von Ende April wiederholte, reagierten die Aktien mit einer deutlichen Avance. Laut Bertschy hätten Investoren wohl darauf gesetzt, dass Nestlé die Ziele zurücknehmen müsse.

Wo liegt die neue Normalität?

Im Zentrum steht stets die Frage, wo nach dem Boom der ersten Jahre unter Schneider, nach Pandemie und Inflation und schliesslich nach der Abschwächung in den vergangenen Monaten die neue Normalität bei Wachstum und Profitabilität liegt. Dem pflichtet Bertschy bei. «Es ist für den Aktienkurs natürlich entscheidend, ob sich das Wachstum jetzt bei 3, 4 oder 5% einpendelt.»

«Dass sich die Konsummuster nach der ausserordentlichen Pandemiezeit normalisieren werden, war klar», sagt Pascal Boll, Aktienanalyst beim US-Brokerhaus Stifel. Viele Beobachter hätten aber erwartet, dass Nestlé besser aufgestellt sei, um diese Herausforderungen zu meistern. Trotz sinkender Inflation ist das Verkaufsvolumen nicht wieder gestiegen. Sowohl die Jahreszahlen für 2023 als auch die Ende April veröffentlichten Quartalszahlen unterstreichen dies.

Just in den wachstumsstarken Produktkategorien Tiernahrung und Kaffee blieb der Konzern hinter den – hohen – Erwartungen zurück. Purina hat gar zum ersten Mal Marktanteile verloren. In diesen Bereichen muss Nestlé volumenmässig zumindest auf ein einstelliges Prozentwachstum zurückfinden. Für Bertschy ist gerade Kaffee weiterhin ein Wachstumstreiber, angesichts des Marktpotenzials etwa in China und bei kaltem Kaffee.

Nestlé Health Science rückt in den Fokus

Medial und öffentlichkeitswirksam forciert Nestlé auch das Medizinalgeschäft. Sie wittert wohl nicht zuletzt wegen des Erfolgs von Abnehmprodukten und des Trends zur Selbstoptimierung durch die Ernährung ein lukratives Geschäft. Vergangene Woche hat sie in den USA eine neue Nahrungsmittellinie lanciert, die als Unterstützung für Anwender von GLP-1-Medikamenten zur Gewichtsabnahme gedacht ist. Zudem muss sie sich gegen zunehmenden Gegenwind wappnen: Kalorienreiche und ungesunde Lebensmittel stehen im Fokus der Gesundheitskampagnen von Staaten und Nichtregierungsorganisationen.

Das Angebot des Konzerns soll insgesamt gesünder werden. Heute machen gesunde Produkte zusammen mit Vitaminen und Nahrungsergänzungsmitteln gemäss Konzernangaben rund 60% des Lebensmittel- und Getränkeumsatzes aus. Bis 2030 soll der Absatz dieser nahrhafteren Produkte um 20 bis 25 Mrd. Fr. respektive um 50% ausgehend vom Niveau von 2022 steigen. Eine wichtige Rolle fällt Nestlé Health Science (NHS) zu.

Es ist nicht das erste Mal, dass Nestlé NHS in den Fokus rückt. Allein seit 2020 hat sie diverse Übernahmen im Gesundheitsbereich vollzogen. Wobei die Geschichte mit Enttäuschungen gespickt ist. Zuletzt floppte Palforzia. Das Mittel zur Behandlung von Erdnussallergie wurde nur drei Jahre nach dem Kauf für 2,6 Mrd. $ aufgegeben. Vergangenes Jahr kämpfte der Konzern gemäss eigenen Angaben mit IT-Problemen sowie Integrations- und Lieferschwierigkeiten. Die bereinigte operative Marge sank 1,6 Prozentpunkte auf magere 12%, der Verkauf entwickelte sich schleppend. «Das kostete den Konzern vergangenes Jahr 60 bis 70 Basispunkte beim Wachstum», sagt Bertschy.

2023 lag das Geschäftsfeld, das seit dem Geschäftsjahr 2021 separat ausgewiesen wird, mit einem Rückgang des verkauften Volumens um 3,2% entsprechend im Hintertreffen. Nur Wasser performte unter den sieben Produktkategorien schlechter.

Das soll sich bereits im zweiten Halbjahr 2024 ändern. Als Beispiel für eine global erfolgreiche Lancierung zieht Nestlé immer wieder den Erfolg von KitKat heran. Tatsächlich ist der Umsatz mit dem Schokoladeriegel in den vergangenen Jahren markant gewachsen. Doch sei das Geschäft mit Vitaminen und Nahrungsmittelzusätzen damit nicht vergleichbar, sagt Boll. Allein die je nach Land unterschiedlichen Lebensmittelgesetze und Distributionskanäle bildeten Wachstumshürden.

Hinzu komme im Bereich der Nahrungsergänzungsmittel und Vitamine die Konkurrenz durch White-Label-Produkte der Supermärkte. Ausserdem lasse sich kaum beurteilen, ob dieser Trend so langfristig sei, wie Nestlé sich das wünsche, sagt Boll. «Nestlé geht eine Wette ein.» Der Konzern sei damit aber nicht allein. Das Potenzial – auch ausserhalb der USA – rechtfertige die Investitionen, glaubt indes Bertschy. «Der Markt wächst extrem schnell, Nestlé ist dank starker Marken sehr gut positioniert.»

Damit steht NHS sinnbildlich für die nächste Phase bei Nestlé: Der Bereich ist vom Problem zum Hoffnungsträger geworden. Der Konzern verspricht sich nicht nur schnelles Wachstum (laut Bertschy müsste es im zweiten Halbjahr 2024 im zweistelligen Prozentbereich liegen), sondern auch höhere Margen. «Kann Nestlé jetzt aber nicht liefern, hat sie ein anderes Problem.» Gleichzeitig ist klar, mit einem Umsatz von knapp 6 Mrd. Fr. im Jahr 2023 bleibt das Geschäft im Vergleich mit den Kategorien Produkte für Heimtiere und Kaffee klein.

Wahrscheinliches Sesselrücken im Jahr 2026

Fakt ist: Die Voraussagen des Managements lagen zuletzt weit daneben. Da scheint es fraglich, ob die Visibilität jetzt so viel besser ist, damit die Vorhersage über das nächste Quartal hinaus Gültigkeit bewahren kann. Oder aber ob auf ein oder zwei gute Quartale wieder eine Enttäuschung folgen könnte. «Der CEO ist unter Druck, Nestlé ist unter Druck», sagt Boll. Wenn sich die jüngsten Ankündigungen bis Ende Jahr nicht bestätigen lassen, dürften durchaus auch personelle Fragen gestellt werden.

Nestlé wird im Sinne eines geordneten Übergangs ohnehin über die Nachfolge von Mark Schneider auf dem Chefposten nachdenken müssen. Im September 2025 wird er 60 Jahre alt, Präsident Paul Bulcke dann schon 71. Erhält der Konzern aus Vevey die Tradition aufrecht, dürfte es spätestens im Jahr darauf zum Sesselrücken kommen, und Schneider hätte gute Chancen, den Belgier an der Spitze des Verwaltungsrats zu beerben. Umso mehr, wenn er jetzt nochmals das Ruder herumreissen kann. Umgekehrt hätte er wenig davon, noch Versprechungen zu machen, die er nicht halten kann.

Für 2024 liegt das Ziel bei 4% organischem Wachstum und einem leichten Anstieg der bereinigten operativen Marge gegenüber 2023. Zuletzt lag sie bei 17,3%. Bis 2025 will Nestlé aus eigener Kraft im mittleren einstelligen Prozentbereich wachsen, die Marge soll zwischen 17,5 und 18,5% zu liegen kommen. Darüber hinaus hat sich der Konzern noch nicht geäussert. An neuen Mittelfristzielen wird sich aber wohl vor allem die nächste Person an der Spitze des Konzerns messen lassen müssen – eine Roadmap bis 2030 würde dem Investment Case durchaus guttun.

Bewertung der Aktien ist vermehrt ein Thema

Weil die Zukunftsvision fehlt, war zuletzt die Bewertung der Aktien vermehrt ein Thema. Mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 19 für 2024 respektive 18 für 2025 sind sie im Vergleich mit den vergangenen fünf Jahren nicht teuer, auch die Prämie gegenüber der Konkurrenz ist gesunken. Und das Unternehmen bleibt bei aller Kritik eine Cash-Maschine: 2023 betrug der freie Cashflow 10,2 Mrd. Fr., bei einem Umsatz von 93 Mrd. Fr. Davon profitieren auch die Aktionäre dank stetig steigender Dividende und Aktienrückkäufen.

Historisch günstig seien die Titel, sagen deshalb die einen – etwa Lorenz Reinhard, Co-Head Schweizer Aktien von Pictet. Dies insbesondere, wenn man bedenke, dass allein die 20%-Beteiligung am französischen Luxuskonzern L’Oréal rund ein Fünftel der Börsenkapitalisierung ausmache. Für andere wie Peter Frech und Livio Arpagaus, Manager des Quantex Global Value Fund, bleiben die Aktien angesichts der Wachstumsflaute aber zu teuer.

Für Investoren bleibt aus Sicht von The Market deshalb nur eines: auf einen positiven Impuls und die Bestätigung der jüngsten Ankündigungen warten. Damit liesse sich der grauenvoll negative Trend an der Börse brechen.

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