Dienstag, Oktober 8

Nestlé hat Knall auf Fall den CEO ausgewechselt. Der Verwaltungsratspräsident Paul Bulcke erklärt, wie es zur Trennung von Mark Schneider kam und was er von seinem Nachfolger erwartet.

Herr Bulcke, Nestlé hatte stets die Regel, dass jeder Manager innerhalb von 24 Stunden ersetzt werden kann. Wie lange brauchten Sie, um den CEO Mark Schneider durch Laurent Freixe zu ersetzen?

Ein Entscheid kommt nicht von einem Tag auf den anderen, sondern formt sich über die Zeit. Wir sind in diese Situation hineingewachsen. Irgendwann waren wir an dem Punkt, an dem wir beide sagten: «Lass uns einen Entscheid fällen!» Und ich versichere Ihnen: Es war auch nicht der Aktienkurs, der das diktiert hat.

Was war es dann?

Viele Faktoren spielen eine Rolle auf beiden Seiten. Es stimmt: Wir haben bei Nestlé Listen mit möglichen Kandidaten für Wechsel im Management. Niemand ist unersetzlich. Der Verwaltungsrat muss dafür sorgen, dass es eine Pipeline an geeigneten Kandidaten gibt – für einen Notfall oder wenn jemand in Pension geht. Damit sind wir gerüstet, wenn plötzlich Bedarf da ist. Es braucht die richtige Person im richtigen Moment. Laurent Freixe bringt alles mit, was in herausfordernden Zeiten wie heute nötig ist.

Aber die Kurzfristigkeit der Trennung ist schon ungewöhnlich für Nestlé. Was hat am Schluss den Ausschlag gegeben?

Warum soll man warten, wenn man die Situation gegenseitig geklärt hat? Mark hat viele Sachen hervorragend gemacht, er hatte einen guten Lauf, dann musste er den Konzern durch die Covid-Krise steuern. Daneben hat er das Portfolio strategisch ausgerichtet, Zukäufe getätigt und Geschäfte verkauft, die für Nestlé weder strategisch noch finanziell von Bedeutung waren. Doch es kam auch der Punkt, an dem wir uns gefragt haben, welche Kombination von Eigenschaften es an der Spitze braucht, um das Unternehmen von hier aus in die Zukunft zu führen.

Sagen Sie es uns.

Es braucht sowohl eine überzeugende strategische Richtung, die intern und extern verstanden wird, als auch Leidenschaft für unsere Marken und für das Marketing, für die Konsumenten. Nestlé ist ein stark regional ausgerichtetes Unternehmen, darum ist es ein Vorteil, wenn Sie die Dynamik der unterschiedlichen lokalen Märkte kennen. All das macht die Seele dieser Firma aus. Als wir uns gefragt haben, wer das machen kann, war die Antwort klar: Das ist Laurent Freixe. Er kennt die Firma, die Leute, die Produkte.

Heisst das umgekehrt, Mark Schneider hatte als Aussenseiter nicht die nötige Leidenschaft und das Verständnis für die Firma und die Produkte?

Das heisst es nicht. Mark hat hervorragende Qualitäten. Jede Person bringt unterschiedliche Stärken mit. Als wir uns überlegt haben, was die Erfolgsfaktoren für Nestlé in der gegenwärtigen Zeit sind, war Laurent die Idealbesetzung.

War es aus heutiger Sicht ein Fehler, dass sich der Verwaltungsrat, dem Sie damals als CEO auch angehörten, für einen Aussenseiter als Ihren Nachfolger entschieden hat?

Mark hat überzeugende Managementfähigkeiten ein grosses Verständnis für Gesundheitsthemen. Er brachte grosse Kompetenz bei der Ausrichtung unseres Portfolios auf unsere Nutrition-Health-and-Wellness-Strategie mit, unter anderem durch Übernahmen und Veräusserungen. Er hat bei Nestlé geliefert und brachte frischen Wind ins Unternehmen.

Doch gerade im Gesundheitsgeschäft haben sich ja viele Hoffnungen nicht erfüllt. Wird Nestlé auch nach dem Abgang von Mark Schneider an der Sparte festhalten?

Auf jeden Fall. Dieser Bereich wurde 2012 eingeweiht. Mark hat ihn rasch ausgebaut und relevant gemacht. Es war immer klar, dass wir damit Neuland betreten. Darum gibt es dort auch Risiken, manchmal kann auch etwas schiefgehen, und man muss einen Verlust wegstecken. Aber es ist definitiv ein vielversprechendes Gebiet mit einem Nutzen für die Gesellschaft. Denken Sie nur an die spezielle Ernährung für die älter werdende Bevölkerung.

Was wird bei Nestlé jetzt wichtiger unter dem neuen Chef?

Eine hohe Priorität ist es, dass wir Marktanteile gewinnen. Dazu muss der neue Chef jetzt die Belegschaft anfeuern. Das wird Laurent schon gelingen.

Laurent Freixe ist 62 und steht für das traditionelle Geschäft von Nestlé. Ist er eine Übergangslösung?

Nein. Mit 62 ist er jung. Übergangslösungen sind nie gut. Laurent ist ab der ersten Minute einsatzfähig und voll verantwortlich. Seine Aufgabe ist auch nicht zeitlich begrenzt. Er kennt die Firma, die Leute, die Strategie. Er war sechzehn Jahre in der Konzernleitung. Wenn Sie in dem Gremium sitzen, rapportieren Sie nicht einfach nur über Ihre Region oder Ihren Geschäftsbereich. Mit 20 Prozent der Zeit arbeiten Sie auch an der Führung des gesamten Konzerns mit und müssen Entscheidungen mittragen. Laurent Freixe ist schon heute verantwortlich für verschiedene weltweite Initiativen zum Thema Jugend, Talent und Ausbildung. Nein, er ist keine Übergangslösung.

Von aussen macht es den Eindruck, dass Nestlé seit Jahren auf der Suche nach einer neuen Strategie ist. Ihr Vorgänger Peter Brabeck wollte die Firma näher Richtung Pharma rücken, Mark Schneider versuchte das Kerngeschäft nachhaltiger, moderner und trendiger zu machen, beides funktionierte nicht. Gehen Sie mit Laurent Freixe wieder zurück in die Vergangenheit?

Nein, das ist eine falsche Lesart. Wir haben unsere Strategie kontinuierlich entwickelt. Mark hat sich klar von der Pharmaindustrie abgegrenzt; Nestlé Health Science liegt näher bei Nahrungsmitteln als bei Pharma. Was Ökologie und Nachhaltigkeit anbelangt, haben wir auch eine längere Tradition, zum Beispiel bei den Bemühungen zu umweltfreundlicheren Verpackungen. Mit Laurent wird das nahtlos weitergehen. Er ist ja nicht vom Himmel in seinen neuen Job gefallen, sondern war bereits ein Teil davon. Im Digitalbereich gehört Nestlé zu den Vorreitern in der Industrie. Es kann also nicht die Rede davon sein, dass Nestlé zurück in die Vergangenheit fällt.

Sie sind seit 45 Jahren bei Nestlé, davon acht als CEO und sieben als Präsident. Damit sind Sie die prägende Figur im Konzern. Welche Entscheide bereuen Sie?

Eine Karriere ist eine Mischung aus Enthusiasmus und Frustration. Aber unter dem Strich sollte man sich gut fühlen – und ich fühle mich gut. Natürlich kann man immer viele Dinge hinterfragen, und ich glaube, ich bin selbstkritisch genug. Nestlé ist keine Ich-Firma, es ist eine Wir-Firma. In guten wie in weniger guten Zeiten sind wir immer ein Team.

Sie werden im September 70. Verzögert der Wechsel an der Konzernspitze Ihre Pensionierung oder bleiben Sie so oder so bis zum Erreichen der Alterslimite von 72 an der Generalversammlung im Jahr 2027?

Alter hängt von der Neugier ab, die jemand mitbringt. Wenn ich nützlich bin für die Firma, stehe ich zur Verfügung. Wenn nicht, bin ich weg. Ich muss ja jedes Jahr von den Aktionären neu gewählt werden.

Etwas, was Sie in der verbleibenden Zeit tun könnten, was immer wieder gefordert wird: Verkaufen Sie einen Teil des L’Oréal-Anteils von 20 Prozent und landen damit einen grossen Coup? Für den Pringles-Hersteller Kellanova hätte es locker gereicht.

Was für eine elegante Art, diese Frage zu stellen. Und Sie werden verstehen, dass ich darauf keine Antwort gebe.

Nestlé-Urgestein

Der Belgier startete seine Nestlé-Karriere vor 45 Jahren als Trainee im Marketing. Er besetzte Positionen im Verkauf und im Marketing in Südamerika und Europa, bevor er Chef für die Zone Nord- und Südamerika wurde. 2008 beerbte Paul Bulcke Peter Brabeck als CEO, 2017 folgte er ihm als Verwaltungsratspräsident. Bulcke hat heute auch den Schweizer Pass, ist verheiratet und wohnt im Kanton Freiburg. Im September wird er 70.

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