Freitag, Oktober 4

Der Nahrungsmittelhersteller ist längst nicht mehr das wertvollste Unternehmen Europas und nun greifen andere nach der Schweizer Krone. Ausserdem: Zu grosse Euphorie bei Swatch Group, Sensirion im Hoch und ein Wort zu Interroll.

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser

Welches ist das wertvollste Unternehmen an der Schweizer Börse? Lange Zeit war diese Frage einfach zu beantworten: Nestlé natürlich. Doch so eindeutig ist die Lage nicht mehr, das Bild des defensiven Bollwerks bröckelt. Mit Roche und Novartis haben die Nummern zwei und drei im Swiss Market Index zuletzt Boden gut gemacht. Im September übertraf ihre Marktkapitalisierung gar kurzzeitig jene des Nahrungsmittelgiganten.

Nun ist die leichte Verschiebung der Kräfteverhältnisse nicht in erster Linie auf einen Exploit der Pharmaschwergewichte zurückzuführen. Auch sie haben in den vergangenen Jahren enttäuscht. Seit Jahresbeginn haben beide Titel jedoch rund 10% an Wert gewonnen und damit die europäische Konkurrenz hinter sich gelassen, vor allem aber die Aktien von Nestlé, die im gleichen Zeitraum über 17% verloren haben.

Nestlé, lange Zeit gemessen an der Marktkapitalisierung das grösste respektive zweitgrösste Unternehmen Europas – hinter LVMH – hat auch über die Landesgrenzen hinaus etwas an Bedeutung eingebüsst. Im Stoxx Europe 600 liegt der Konzern an fünfter Stelle. Roche folgt auf Rang sechs, Novartis auf Rang acht. An der Spitze steht – wenig überraschend – Novo Nordisk. Der dänische Pharmaüberflieger ist an der Börse mittlerweile fast doppelt so schwer wie Nestlé.

Aus Sicht vieler Schweizer Anleger, die bekanntlich gerne und oft auch über Indexprodukte im Heimmarkt investieren, ist diese Entwicklung wenig erfreulich. Obwohl nicht mehr ganz so bedeutend wie früher, macht Nestlé mit einem Börsenwert von 223 Mrd. Fr. immer noch rund 12% der gesamten Börsenkapitalisierung des SPI aus, die drei Schwergewichte zusammen mehr als ein Drittel. Sie tragen also einen erheblichen Teil zur Performance des SPI bei – in guten wie in schlechten Zeiten.

China sorgte vergangene Woche für Euphorie, auch an der Schweizer Börse. Das Politbüro in Peking liess am Donnerstag über die Staatsmedien durchsickern, dass es fiskalpolitische Stützungsmassnahmen erwäge. Dies, nachdem die People’s Bank of China (PBoC) nur Tage zuvor geldpolitische Lockerungsmassnahmen angekündigt hatte. Keine Aktie spürte die Hoffnungen auf eine Belebung des chinesischen Konsums in der Schweiz so stark wie Swatch Group: Sie legte innerhalb weniger Tage um rund 20% zu.

Das Kalkül der Anlegerinnen ist in diesem Fall ganz einfach: Je grösser das China-Exposure, desto mehr dürfte das Unternehmen von möglichen Stimulusmassnahmen im Konsumbereich profitieren. Beim gebeutelten Luxusgüterhersteller machten die Verkäufe in Festlandchina selbst im schwachen ersten Halbjahr 2024 rund ein Drittel des Gesamtumsatzes aus. Das ist nicht nur im Vergleich zu anderen Schweizer Unternehmen ein beachtlicher Anteil, sondern auch im stark von China abhängigen Sektor ist die Swatch Group damit Spitzenreiter, wie eine Studie der Bank of America zeigt.

Kommt hinzu, dass die Inhaberaktien 2024 zwischenzeitlich einen Drittel an Wert verloren hatten, bei rund 150 Fr. notierten sie gar unter dem Tiefst nach Ausbruch der Coronapandemie im März 2020. Auf diesem Niveau braucht es nicht viel, damit gute Neuigkeiten Bewegung in den Kurs bringen. Zumal die Titel weiterhin deutlich unter Buchwert notieren.

Dennoch habe ich meine Zweifel, ob dieser Preisanstieg von Dauer sein wird. Zum einen ist unklar, inwieweit die Nachfrage nach westlichen Luxusgütern in China tatsächlich angekurbelt werden soll. Alle Informationen über konjunkturstützende Massnahmen basieren auf den erwähnten Leaks, wie eine staatliche Unterstützung im Detail aussehen würde, ist nicht bekannt. Und angesichts ihres bisherigen Kurses dürfte es kaum im Interesse der Regierung in Peking sein, dass die Menschen ihr Geld für Statussymbole wie teure Uhren ausgeben. Im Gegenteil: Wie Jörg Wuttke im Interview mit meinem Kollegen Mark Dittli betont hat, werden die Reichen in China zunehmend dazu angehalten, ihren Reichtum nicht mehr zur Schau zu stellen.

Auf der anderen Seite stellen sich aus Unternehmenssicht einige Fragen. Zwar könnte die Swatch Group dank ihrer starken Präsenz im mittleren Preissegment mit Marken wie Longines und Omega endlich einen Vorteil gegenüber den Luxusmodellen von Rolex haben, nachdem jahrelang das obere Preissegment am besten lief. Allerdings ist der Konzern sehr schlecht geführt, was sich auf verschiedenen Ebenen zeigt – und auch die operative Erholung bremsen könnte.

Augenscheinlich sind die gravierenden Defizite in der Kommunikation, die ich wiederholt beschrieben habe. Die jüngste Posse ereignete sich vergangene Woche: CEO Nick Hayek stellte in einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin Bilanz mögliche Pläne für einen Rückzug von der Schweizer Börse in den Raum – woraufhin der Kurs nach oben schoss –, nur um die selbst verursachten Mutmassungen und Spekulationen einige Tage später selber wieder zu relativieren.

Daneben fallen vor allem Ineffizienzen und Fehlentscheidungen auf. Die Produktpalette der Bieler ist riesig und verursacht zusätzliche Kosten im Handel und bei der Rücknahme. Nicht nur deshalb steigen die Lagerbestände stetig an. Das Management unter Nick Hayek ist bisher nicht bereit, beim Personal zu sparen und produziert auf Halde. Zudem wird das mittlere Preissegment stark von Smartwatches bedrängt. Ein Bereich, dem Swatch Group bisher kaum Beachtung geschenkt hat, ebenso wenig wie der jungen Käuferschicht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass das Unternehmen zuletzt Marktanteile verloren hat.

Wir haben in den vergangenen Jahren und Monaten immer wieder betont, dass irgendwann auch bei Swatch Group der maximale Pessimismus erreicht sein müsste und die günstige Bewertung herausgestrichen – und deshalb lange auf eine Erholung gesetzt. Immer wieder wurden wir enttäuscht. Entsprechend kann ich den Jefferies-Analysten verstehen, der die Aktien vor zwei Wochen quasi auf dem Tief auf «Underperform» zurückgestuft hat, mit einem neuen Kursziel von 120 Fr. – Timing ist immer schwierig, aber gebrannt bin auch ich. Und wir befinden uns in guter Gesellschaft, auch die Autoren der Studie von Bank of America machen bei Swatch Group noch immer das grösste Abwärtsrisiko unter den Luxusgüterherstellern aus.

Über mangelnde Aufmerksamkeit kann sich Tommaso Operto, Aktienanalyst der UBS, nicht beklagen. Seine Hochstufung der Sensirion-Aktien von «Verkaufen» auf «Kaufen» bewegte am vergangenen Freitag die Börse, der Kurs stieg an einem Handelstag um mehr als 14% auf rund 74 Fr.

Begründet hat Operto seine optimistischerer Sichtweise mit ermutigenden Anzeichen dafür, «dass sich der Lagerabbau dem Ende zuneigt». Er erwartet, dass der margenstarke Geschäftsbereich Medizintechnik bis 2025 zum Wachstumspfad im mittleren einstelligen Prozentbereich zurückkehrt, während der Geschäftsbereich Industrie bereits im ersten Halbjahr 2024 von der sich normalisierenden Nachfrage nach Luftreinigern profitiert habe. Der wichtigste kurzfristige Wachstumshebel seien regulatorische Änderungen, die Lecksensoren für A2L-Gase erfordern.

Positiv streicht der Analyst hervor, dass Sensirion auch im schwierigen Geschäftsjahr 2023 die Ausgaben für Forschung und Entwicklung hochgehalten und damit ins künftige Wachstum investiert habe. Nach Aussagen des Unternehmens sollen künftig 22 bis 24% des Umsatzes in die Forschung und Entwicklung fliessen. Davon könne der Sensorenhersteller jetzt am Wendepunkt im Zyklus besonders profitieren, glaubt Operto. Das neue UBS-Kursziel für die Aktien liegt mit 84 Fr. noch immer 17% über den gegenwärtigen Niveau.

The Market hingegen beurteilt die Forschungsaktivitäten von Sensirion skeptischer. Relativ hohe Ausgaben allein und eine von Ingenieurskunst und Innovation geprägte Unternehmenskultur reichen nicht aus, um im launischen Technologiesegment erfolgreich zu sein, schrieb mein Kollege Giorgio Müller Anfang September. So hat sich das Unternehmen bisher schwer getan, in schwierigen Phasen Personalanpassungen vorzunehmen. Die starre Planung kostet und macht Sensirion unflexibel. Um eine nachhaltig höhere Profitabilität zu erreichen, müsste das Management stärker auf die Kosten achten und in der Forschung effizienter werden.

Für mich zeigt die Marktreaktion vor allem eines: In einem dünnen Handel, und bei Sensirion ist dies mit Ausnahme von wenigen Tagen im Jahr stets gegeben, braucht es sehr wenig, damit der Aktienkurs in Bewegung kommt. Das gilt in der Aufwärts- aber insbesondere eben auch in der Abwärtsbewegung.

Vor rund zwei Wochen habe ich an dieser Stelle über die Managementtransaktionen bei Interroll berichtet. Für 24 Mio. Fr. hatte ein nicht-exekutives Verwaltungsratsmitglied von Interroll – wohl Ingo Specht – per Freitag, den 13. September, Aktien verkauft. Insbesondere aber konnte ich mir die Diskrepanz zwischen den bei der Aufsichtsbehörde der SIX (SER) gemeldeten Verkäufe und der im Geschäftsbericht ausgewiesenen Zahlen für 2023 nicht erklären. Während das Unternehmen den Verkauf auf 10’000 Aktien beziffert, kam die SER auf Veräusserungen durch Manager und Verwaltungsratsmitglieder in Höhe von nur 7138 Titeln.

Inzwischen hat eine Unternehmenssprecherin mit die Differenz erklären können: Die Anzahl Aktien von VR-Mitglied Ingo Specht im Geschäftsbericht beziehen sich auf die gesamte Aktionärsgruppe, die Meldungen bei der SER lediglich auf Aktienverkäufe, die er als VR-Mitglied selbst getätigt hat.

Freundlich grüsst im Namen von Mrs Market

Gabriella Hunter

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