Donnerstag, Dezember 26

Ein Leben lang hatte sich der verstorbene kolumbianische Literaturnobelpreisträger gegen eine Verfilmung seines grossen Romans gewehrt. Nun fielen ihm seine Söhne in den Rücken.

Hat der alte Meister sich das so vorgestellt? Zauberkunststücke der Transzendenz, bei denen statt Jungfrauen die Priester schweben. Massenszenen mit stets tadellos sitzenden Kostümen. Und dazu noch eine Tonne regenwaldheisser Sex.

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Bis zu seinem Tod vor zehn Jahren wollte der Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez von einer Verfilmung seines grossen Romans «Hundert Jahre Einsamkeit» nichts wissen. Selbst millionenschwere Angebote hat er abgelehnt. Seinen beiden Söhnen und der Durchsetzungskraft von Netflix hat man es zu verdanken, dass der Stoff jetzt als Weihnachtsschinken auf den medialen Gabentisch kommt.

Bis jetzt acht Folgen und damit rund neun Stunden dauert das Opus magnum der Streamingsaison. Eine zweite Staffel ist für nächstes Jahr versprochen. Man sollte begleitende Getränke bereithalten, denn hier geht es ziemlich verschwitzt zu.

Eine Phantasiemaschine

In seinem zu Recht für unverfilmbar gehaltenen Roman erzählt Gabriel García Márquez die Geschichte der Familie Buendía. Wegen eines Mordes müssen José Arcadio Buendía und seine Frau Úrsula ihr dörfliches Paradies verlassen. Monatelang ziehen sie durch Sümpfe, Urwälder und Salzwüsten, bis sie beschliessen, eine Stadt zu gründen. Sie heisst Macondo und wird ab dem 19. Jahrhundert und über sieben Generationen hinweg zu einer Hölle aus Glück und Laster.

García Márquez spielt in seinem weltweiten Bestseller mit biblischen Metaphern, Komik und Hokuspokus. Wegen Letzterem gilt das Werk als Paradebeispiel für den magischen Realismus lateinamerikanischer Literatur. «Hundert Jahre Einsamkeit» ist eine Phantasiemaschine, eine Laterna magica, bei der es dem Leser überlassen bleibt, was er sieht.

Wenn sich Netflix der Sache annimmt, ist die Sache naturgemäss anders. Wir sehen, was uns der Streamingdienst und die beiden Regisseure Alex García López und Laura Mora zu sehen geben: schwülstiges Kino mit permanenter Katastrophengefahr.

Die Liebe und der Hass laufen schon bei geringster Gelegenheit aus dem Ruder. Dazu gibt es eine phantastische Parallelwelt, in der Zeit und Raum aufgehoben sind. Lebende haben die Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen, und Tote kehren aus dem Jenseits in die Gegenwart zurück. Zum Beispiel Melquíades, früher Chef einer vagabundierenden Künstlertruppe, der genauso einen Draht zum Übersinnlichen hat, wie er sich in den Naturwissenschaften auskennt. Praktischerweise schreibt er auch eine Art Buch des Lebens, in dem schon alles drinsteht, was sich vor den Augen des Zusehers gerade abspielt.

Im Rahmen der Softporno-Schicklichkeit

Bei Gabriel García Márquez ist das alles ein grosses Welttheater. Die Buendías stehen für das Menschengeschlecht und sind trotzdem auch tragische Mitspieler in der zwischen Utopie und Unterdrückung changierenden Geschichte Südamerikas.

Wie soll man all das verfilmen? Bei der Serie hat man sich hauptsächlich für den Teil mit der Familiengeschichte entschieden. Für handwerkliche Präzision und papierene Dialoge. Tätowierten und nicht gerade zierlichen Männern stehen untertänige, aber bisweilen intrigante Frauen gegenüber. Das Begehren schrammt oft am Inzest vorbei, bleibt im abgefilmten Zustand aber im Rahmen der Softporno-Schicklichkeit.

Die Männer der Familie Buendía leben in zwei Welten: Sie sind Getriebene und versuchen doch, die Aufklärung voranzutreiben. Allen voran der von Diego Vásquez gespielte Macondo-Gründer José Arcadio. Von Melquíades lernt er etwas über Magnetismus und über den Gebrauch von Sextanten. Der vagabundierende Seher ist auch im Besitz einer Kamera. Familienbilder der Buendías reichen José Arcadio bald nicht mehr. Er will eine Daguerreotypie Gottes. Hellsicht und Umnachtung gehen beim knorrigen Patriarchen Hand in Hand. So sitzt er schon nach ein paar Netflix-Folgen an einen Baum gefesselt im Hof seines Anwesens und spricht seltsamerweise nur noch Latein.

Treu hält seine Frau Úrsula zu ihm, die auch sonst alles auszubaden hat, was sich im immer weiter wachsenden Haushalt tut. Zwei Söhne zeugen mit der Dorfprostituierten Kinder. Durch Liebschaften und plötzlich auftauchende Verwandte lagert sich immer mehr Personal an. Die Buendías sind Epizentrum einer Dauererregung zwischen Wutausbruch und Poesie.

Massenszenen für ein Massenpublikum

Geniesserisch gleiten die Kameras über die Szenen. Über Tränen, Blut und Tod. Im kolumbianischen Wald wurde für die Netflix-Produktion eigens ein Macondo errichtet, in dem immer Stosszeit ist. Hunderte Statisten, die originalgetreu herausgeputzt sind, treiben durch die Stadt. Auch sie haben wohl dazu beigetragen, dass die Romanverfilmung eines der teuersten südamerikanischen Serienprojekte aller Zeiten wurde.

Während der ersten acht Folgen von «Hundert Jahre Einsamkeit» arbeitet sich das Menschengeschlecht der Buendías immer weiter in Liebe und Intrigen hinein und schliesslich auch in einen handfesten Krieg. Die Nachfahren der Macondo-Gründer kämpfen als Liberale gegen das Zentralregime des Staates. Das gibt Massenszenen für ein Massenpublikum, das sich am Ende entkräftet nach einer Pause sehnt. «Hundert Jahre Einsamkeit», die Telenovela für Bildungsbürger, wird auch im nächsten Jahr dafür sorgen, dass keiner allein bleibt.

«Hundert Jahre Einsamkeit». Auf Netflix.

Exit mobile version