Dank einer präziseren Ansteuerung von E-Motoren und einer sehr feinen Rekuperation wird die mechanische Bremse in E-Autos künftig kaum mehr benutzt. Doch ganz ohne wird es nicht gehen.
Seit Autos beschleunigen, werden sie auch gebremst. Das funktioniert seit über hundert Jahren über Reibbremsen. Bei den ersten Wagen bremsen Holzklötze auf der Felge die Fuhren, später kommen Felgenbremsen, Trommelbremsen und Scheibenbremsen hinzu. Als erster Serienwagen setzt der B-70 von Chrysler 1924 auf hydraulische Bremsen, wenig später der Triumph 13/35 als erstes Auto in Europa. Je nach Motorleistung verzögern seitdem Trommelbremsen (hinten) und Scheiben (vorne und/oder hinten) in unterschiedlichen Durchmessern, Materialien und Kühlsystemen die Fahrzeuge.
Doch genau die könnten bald Geschichte sein. Denn mit der Einführung von Elektromotoren in Autos sorgen E-Maschinen nicht nur für Vortrieb, sondern auch für Verzögerung. Dabei sorgt ein Widerstand im Elektromotor für das Abbremsen des Fahrzeugs, ohne Abwärme und Abnutzung zu erzeugen. Der Motor fungiert hierbei als Generator und erzeugt aus der Bewegungsenergie des Fahrzeugs Strom.
Das bedeutet: Beim Bremsen verpufft die Bremsenergie nicht in Wärme und Abrieb in der Luft, sondern landet im Akku. Bei vielen E-Autos lässt sich die Rückgewinnung von Energie beim Bremsen, die sogenannte Rekuperation, mehrstufig einstellen. Nur bei einer sehr starken Verzögerung greift die mechanische Bremse ein.
Dabei fällt der Energiegewinn hoch aus: Ein Elektromotor kann einen Teil der Leistung, die er beim Beschleunigen braucht, bei der Verlangsamung zurückgewinnen. «Dabei arbeitet der E-Motor viel präziser und feinfühliger als eine konventionelle Bremse», sagt Martin Doppelbauer, Professor für hybridelektrische Fahrzeuge am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Wasser, Rost oder Hitze auf einer mechanischen Bremse beeinträchtigen hingegen die Bremsleistung, dazu produzieren die konventionellen Bremsen Feinstaub, der vor allem an den Bremsbelägen abgerieben wird.
In bis zu 98 Prozent aller Alltagssituationen bremst heute schon der E-Motor die Batterieautos. Denn bei nahezu allen modernen Elektroautos verzögert beim Betätigen des Bremspedals zuerst der E-Motor das Auto. Erst ab einer bestimmten Bremsstärke aktiviert das System die mechanische Bremse. Bei diesem intelligenten Bremspedal merken Piloten dank einem künstlichen Bremsdruck am Bremspedal nicht, mit welcher Art von Bremse sie gerade verzögern. «Eine gute Abstimmung der Bremssysteme ist alles andere als trivial und erfordert einen sehr grossen Entwicklungsaufwand», sagt Doppelbauer.
Doch das zahlt sich aus: Die gewonnene Energie sorgt für einen niedrigeren Verbrauch und eine höhere Reichweite. Zudem ist der Verschleiss der mechanischen Bremse geringer. Es ergibt sich aber auch ein Nachteil: Nicht genutzte Bremsscheiben rosten und erhalten dadurch bleibende Spuren. Ein Problem, das auch dem deutschen TÜV bei seinen Hauptuntersuchungen immer wieder bei E-Autos auffällt.
Immer mehr Bremseinsätze per E-Motor
Künftig könnten die mechanischen Bremsen noch weniger zum Einsatz kommen. BMW zögert den Einsatz der mechanischen Bremse in seiner Plattform für die nächste Fahrzeuggeneration «Neue Klasse» weiter hinaus, indem sie noch länger und stärker rekuperiert als bisher. Dank einer besseren Vernetzung greift das zuständige Steuergerät 1000-mal in der Sekunde ein und damit zehnmal so schnell wie bisherige Systeme. Dadurch arbeitet der E-Motor als Bremse sogar in kritischen Situationen wie Kurven bis kurz vor dem Regelbereich der Anti-Blockier-Bremse (ABS).
Neben einer Effizienzsteigerung von bis zu 25 Prozent verspricht sich BMW deutlich weniger Eingriffe der mechanischen Bremse. Nur noch in ganz wenigen Situationen wie bei einer Vollbremsung will der bayrische Autobauer die mechanische Bremse überhaupt aktivieren. «Mit den neuen Steuergeräten können wir Antrieb und Bremse zusammenbringen», sagt Christian Thalmeier, Entwicklungsleiter BMW Dynamic Performance Control. Möglich wird das, weil erstmals bei BMW Antriebs- und Fahrdynamikfunktionen in einer Einheit integriert sind. Sie nennt sich im Marketing-Jargon des Herstellers «Heart of Joy» (Herz der Freude).
Doch auch bei der effizientesten Rekuperation benötigt das Auto noch eine konventionelle Bremse. Denn bis heute schreibt der Gesetzgeber separate Bremsen vor: Laut der deutschen Strassenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO), an die sich auch die Schweizer Zulassungsstellen weitgehend halten, müssen Kraftfahrzeuge «zwei voneinander unabhängige Bremsanlagen haben oder eine Bremsanlage mit zwei voneinander unabhängigen Bedienungseinrichtungen, von denen jede auch dann wirken kann, wenn die andere versagt». Beim klassischen Auto sind dies die Betriebsbremse und die Feststell- oder Handbremse.
Die Bremsanlage eines modernen Autos muss in einem Bremsvorgang bis zu 2200 kW Leistung aufnehmen – ungefähr so viel Energie, wie ein Windrad mit einem Durchmesser von 90 Metern produziert. Die Rekuperation hingegen steigt in den meisten Fällen bei 300 kW aus, weil die Akkus nicht mehr Energie auf einmal speichern können.
Mercedes-Benz hat in einem Prototyp gezeigt, wie diese Notfallbremse noch kleiner, kompakter und langlebiger werden soll. Eine neue Elektro-Getriebe-Einheit soll die Bremse an den Rädern weitgehend überflüssig machen. Dafür sitzen in dem Gehäuse wassergekühlte Bremsscheiben, um die sich Bremsbeläge drehen. Bei einer Notbremsung kann die Bremsanlage mit einer ähnlichen Kraft verzögern wie bisherige Anlagen.
Die neuartige Bremse arbeitet aber leichter, kompakter, verschleisst kaum, rostet nicht und ist wartungsfrei. Feinstaubemissionen durch Abrieb gibt es ebenso wenig wie Reib- oder Quietschgeräusche. Weiterer Vorteil: Sie lässt sich wie die Rekuperationsbremse sehr fein dosieren und bremst intelligent. Wie ein Getriebe könnte die neue Bremseinheit ein Autoleben lang halten, im Schnitt 15 Jahre oder 300 000 Kilometer.
Ausserdem macht diese sogenannte In-Drive-Bremse in der Elektro-Getriebe-Einheit die Bremszangen und Beläge an den Rädern überflüssig. Damit verringern sich die ungefederten Massen im Rad, immerhin bis zu 40 Prozent, was den Fahrkomfort erhöht. Da eine regelmässige Bremsenkühlung nicht mehr benötigt wird, lassen sich die Felgen voll verkleiden – für eine bessere Aerodynamik und einen geringeren Luftwiderstand. Das reduziert den Verbrauch und erhöht die Reichweite.
Bei Diesel-Lkw arbeitet ein Alternativsystem
Die Idee einer verschleissfreien Bremse ist allerdings nicht neu. Bei schweren Lkw über 7,5 Tonnen schreibt der Gesetzgeber eine verschleissfreie Dauerbremse vor. Dieser sogenannte Retarder muss ausreichen, um ein vollbeladenes Fahrzeug auf einer sechs Kilometer langen Strecke mit einem Gefälle von sieben Prozent auf 30 km/h zu begrenzen.
Auch beim nächsten Mercedes-Modell CLA soll keine Bremsenergie mehr verlorengehen – und so selten wie möglich die mechanische Bremse zum Einsatz kommen. Mit bis zu 200 kW bremst der E-Motor das Fahrzeug ab und speichert die gewonnene Energie im Akku. Wie bei BMW arbeitet die Rekuperation nah an der ABS-Grenze, ist damit besonders effizient und schont gleichzeitig die mechanische Bremse. «Fast alle Bremsmanöver im Alltag laufen über die Rekuperation», sagt Oliver Zolke, Projektleiter Entwicklung MMA-Architektur bei Mercedes. Nur in Notfällen muss der Pilot also künftig die physische Bremse betätigen.
«Elektronisch gesteuertes Bremsen wie bei der Rekuperation bietet exakt das Bremsmoment an, das verlangt wird», sagt Doppelbauer. «Wenn das möglichst sanft und gleichmässig geschieht, bietet diese Art von Bremsen mehr Vorteile als eine konventionelle Bremse. Mit der Weiterentwicklung der Rekuperation und der Akku-Steuerung lässt sich die E-Bremse noch feiner ausrichten.»
Es gebe nur wenige Situationen, in denen die elektrische Bremse nicht funktioniere. Wenn der Akku schon vollgeladen sei und keine Energie aufnehmen könne, rekuperiere das E-Auto nicht, man müsse also mechanisch bremsen. «Dem können Hersteller aber entgegenwirken, indem sie auch bei einer vermeintlichen Vollladung ein paar Prozent Energiepuffer für die Rekuperation bereithalten.»
Dass Autos auf mechanische Bremsen irgendwann ganz verzichten können, sieht Doppelbauer aber nicht. «E-Antriebe mit ihrer Rekuperation sind sehr komplex. Wenn die Technik ausfällt, muss die Bremse dennoch funktionieren», sagt er. Künftig können die mechanischen Bremsen jedoch noch kleiner ausfallen, oder sie arbeiten statt an vier künftig nur noch an zwei Rädern. Und auch der Rückschritt zur guten alten Trommelbremse wäre denkbar: Sie ist günstiger als Scheibenbremsen, und die Bremsbeläge liegen geschützt in einer Bremstrommel.