Mittwoch, Januar 15

Seit längerem geht es um die Frage, wie Europa seine nukleare Abschreckung sicherstellt. Doch schnelle Antworten sind kaum möglich.

Fast drei Jahrzehnte lang schienen Atomwaffen wie aus der Zeit gefallen. Doch sie waren nur eine verdrängte Wirklichkeit. Das zeigt die Diskussion über eine atomare Bewaffnung Europas, die nun aufgekommen ist, seitdem eine Wiederwahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten eine reale Möglichkeit geworden ist. Die zahlreichen öffentlichen Äusserungen dazu vermitteln den Eindruck, dass es bei der Antwort auf die Frage «Neue Atomwaffen für Europa?» nur um ein Ja oder Nein gehe. Was bisher kaum thematisiert wurde, sind die technischen Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre. Ihre Kenntnis aber ist zwingende Voraussetzung für eine fundierte Debatte.

Seit Jahren lässt sich in mehreren Weltregionen wieder eine nukleare Aufrüstung beobachten. Schon im Jahr 2011 hatten US-Geheimdienste auf Satellitenbildern verdächtige Raketensysteme auf russischem Boden identifiziert. Es handelte sich dabei um Abschussrampen für nuklear bestückbare Raketen mittlerer Reichweite, die auf Lastwagen installiert und damit bodengestützt sind.

Solche Waffen verbot damals der INF-Vertrag, ein Abkommen, das die USA und die Sowjetunion 1987 geschlossen hatten. Darin verpflichteten sich beide Staaten, alle landgestützten Flugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern zu vernichten. Russland stritt nach der Entdeckung durch die Amerikaner den Besitz der neuen Raketen ab. Die USA zogen sich daraufhin aus dem INF-Vertrag zurück.

Im Sommer 2018 informierte das Verteidigungsministerium in Berlin die Sicherheitsexperten der Bundestagsparteien über russische Hyperschallwaffen, die mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit in bis zu 100 Kilometern Höhe am Rand der Atmosphäre navigierten. Hyperschallgleiter haben keinen eigenen Antrieb, sondern werden von einer ballistischen Rakete in die Höhe gebracht. Sobald das Raketentriebwerk ausgebrannt ist, macht sich der Gleiter selbständig und rast mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit ins Ziel. Durch seine indirekte Flugbahn ist er für herkömmliche Raketenabwehrsysteme sehr schwer zu bekämpfen. Das sei die russische Antwort auf den amerikanischen Raketenabwehrschild, sagte Präsident Wladimir Putin Anfang 2019.

Risiko eines Nuklearkriegs war nie verschwunden

Im August 2019 setzten die USA und Russland den INF-Vertrag ausser Kraft. Doch auch mit diesem Abkommen war das Risiko eines Nuklearkriegs auf europäischem Boden nie verschwunden. Dafür haben der technologische Fortschritt im Waffenbau und die Entwicklung von luft- und seegestützten Mittelstreckenwaffen und Marschflugkörpern gesorgt. Mittelstreckenraketen fliegen auf einer ballistischen Bahn, haben einen Raketenantrieb und reichen bis zu 5500 Kilometer weit. Marschflugkörper fliegen wie ein Flugzeug im Tiefflug, verfügen über einen Düsenantrieb, kommen aber nicht so weit wie Mittelstreckenraketen.

Schon lange haben die USA, Russland und andere Staaten Mittelstreckenraketen auf Schiffen und U-Booten stationiert. Von dort können sie, auch mit einem Nuklearsprengkopf ausgerüstet, verschossen werden. Die Entwicklung atomar bestückter Marschflugkörper wird seit einigen Jahren ebenfalls vorangetrieben. Alle Nuklearmächte haben im vergangenen Jahrzehnt begonnen, ihre Arsenale zu modernisieren. Künstliche Intelligenz dürfte die Atomwaffentechnik künftig noch weiter revolutionieren.

Die technologischen Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrzehnte sind es, die den Nuklearwaffenexperten James Davis «vor einer tagespolitisch getriebenen, nicht fundierten Debatte» über Atomwaffen in Europa warnen lassen. Davis, gebürtiger Amerikaner und Politikwissenschafter an der Universität St. Gallen, sagt, es sei jetzt eine seriöse Diskussion innerhalb der Nato erforderlich, wie das Bündnis künftig seine nukleare Abschreckung gestalten wolle. Dazu müssten neben den USA auch Frankreich und Grossbritannien als weitere Nuklearwaffenstaaten mit einbezogen werden. «Wir sollten eine solche Diskussion keinesfalls an den Amerikanern vorbei führen», sagt Davis.

Warnungen vor einer Spaltung der Nato

Diese Auffassung teilen zahlreiche deutsche Politiker, etwa der Aussenexperte der Christlichdemokraten, Roderich Kiesewetter. Eine solche Debatte würde die USA aus Europa treiben, meinte er warnend. Sein Parteikollege Johann Wadephul sagte, die Diskussion um eine europäische nukleare Abschreckung erfolge im völlig luftleeren Raum. Es fehle derzeit jede politische, strategische, technische und finanzielle Grundlage für ein solches Ziel.

Zuvor hatte auch Verteidigungsminister Boris Pistorius von den Sozialdemokraten in der Debatte um den atomaren Schutzschild der USA zur Zurückhaltung aufgerufen. Er könne nur davor warnen, mit dieser Leichtfertigkeit eine Diskussion vom Zaun zu brechen, nur weil der frühere US-Präsident Trump mit seinen Äusserungen zur Nato Zweifel am Beistandswillen der USA ausgelöst habe. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte gar davor, das Abschreckungssystem der Allianz infrage zu stellen und damit die Abschreckungsfähigkeit der Nato zu untergraben.

Derweil liess der Vorsitzende der Liberalen, Christian Lindner, in einem Gastbeitrag für die «Frankfurter Allgemeine» erkennen, dass er gern das Angebot des französischen Präsidenten Emmanuel Macron diskutiert wüsste. Macron hatte angeboten, mit Deutschland bei der nuklearen Abschreckung zu kooperieren. Dieses Angebot hat er auch auf andere europäische Staaten erweitert.

«Gemeinsamer Koffer mit rotem Knopf»

In einer Rede in Stockholm Ende Januar sagte Macron, «unsere vitalen Interessen sind heute weitgehend europäisch», Frankreich habe bei der nuklearen Abschreckung eine «spezielle Verantwortung». Bereits Ende vergangenen Jahres hatte der Politikwissenschafter Herfried Münkler Europa zu einer atomaren Aufrüstung geraten, um besser vor Kriegen und Erpressungsversuchen geschützt zu sein. «Wir brauchen einen gemeinsamen Koffer mit roten Knopf», sagte er.

Der Politikwissenschafter Davis sagt, durch die Äusserungen Trumps sei die «Urangst der Europäer», im Fall des Falles von Amerika im Stich gelassen zu werden, wieder aktiviert worden. Deshalb sei es dringend erforderlich, dass die Nato jetzt drängende Fragen der nuklearen Abschreckung diskutiere. Haben die Russen die Hürden für den Einsatz von Nuklearwaffen gesenkt? Wie denken die Chinesen über den Einsatz von Atomwaffen? Dies seien nur zwei Aspekte, über die sich Nordamerikaner und Europäer Gedanken machen und Schlussfolgerungen ziehen müssten.

Gemeinsam mit der Münchner Sicherheitskonferenz und dem Center for International Security der Hertie School hat Davis jetzt die Gründung der European Nuclear Study Group angekündigt, die zu Fragen der nuklearen Sicherheit in Europa forscht. Ziel der Studiengruppe sei es, für Europa und seine transatlantischen Partner relevante Veränderungen in der nuklearen Ordnung zu identifizieren, heisst es. Darüber wird auch an der am Freitag beginnenden 60. Münchner Sicherheitskonferenz diskutiert. Die gegenwärtige Nuklearwaffen-Debatte dürfte daher nur der Beginn einer neuen politischen Auseinandersetzung in Europa dazu sein.

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