Samstag, Februar 22

Sean Gallup / Getty

Alle reden über Grönland. Und das kann Grönland nur recht sein. Denn die winzige Nation auf der riesigen Insel will zu einer Top-Reisedestination werden. Die Chancen stehen gut.

Nur wenige Menschen waren auf Grönland, aber gesehen haben es schon viele. Auf halbem Weg zwischen Europa und Nordamerika blendet der grönländische Eisschild die Flugpassagiere.

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Während man sich auf einer Reiseflughöhe von 10 Kilometern befindet, gehen unten spektakuläre Dinge vor sich: Mit weltrekordverdächtigen 30 Metern pro Tag bewegt sich der Jakobshavn-Gletscher in Richtung arktisches Meer und schiebt Kolosse gefrorenen Süsswassers in die Bucht vor sich. In Ilulissat prägen mächtige Eisberge das Panorama und lassen jedes der farbigen Häuschen wie ein Lego-Klötzchen aussehen. Der Eisfjord des Städtchens gehört zu den imponierendsten aller Attraktionen, die Grönland bietet.

Wer das Glück hat, nicht nur über Ilulissat geflogen, sondern auch dort gelandet zu sein, der sollte sich vornehmen, nicht den bequemsten Weg zu wählen. Das Besucherzentrum liegt zwei Kilometer oberhalb des Dorfkerns. Jetzt aber auf keinen Fall den Bus besteigen, denn sonst verpasst man die Sommerferiensiedlung der kläffenden Schlittenhunde. Oben folgen Wandernde am besten dem Wegweiser über den walrückenartigen Hügel der historischen Inuit-Siedlung Sermermiut.

Der Pfad scheint anfangs nicht beeindruckend, ohne jede Weitsicht. Es vermischt sich das Oben und das Unten: grau verhangener Himmel über felsigem Grund, unter den Schuhsohlen schmatzt zaghafte Vegetation aus Moos und Flechten. Gerade wenn man sich fragt, ob der felsige Steig überhaupt irgendwohin führt, gibt der Hügel von einem Moment auf den nächsten den Blick frei.

Der Vergleich mit Weltwundern drängt sich auf

Dicht gedrängt bis zum Horizont liegen Zehntausende von Eisbergen im Meer. In der Bucht schweben Brocken unterschiedlicher Grösse im Wasser, manche so riesig, dass sie die schweren Wolken über dem Horizont zu berühren scheinen, andere dümpeln zu Winzlingen zermalmt auf der Wasseroberfläche – als hätte jemand einen gigantischen Sack Puderzucker ausgeschüttet.

Das ist der Eisfjord vom Ilulissat. Der Ort kreiert Bilder, die selbst Caspar David Friedrich für ein Fabrikat der Phantasie gehalten hätte. Keine Fotografie, kein Video, das man zuvor gesehen hat, wird den Sinneseindrücken gerecht, die dieses Panorama vor den Augen seiner Besucher auffaltet.

Dem Vergleich mit Weltwundern wie Indiens Taj Mahal oder Ägyptens Pyramiden hält Grönlands berühmteste Landschaft locker stand. Trotzdem wird das Unesco-Weltkulturerbe relativ selten besucht. Das liegt an seiner Abgelegenheit. Ein guter Teil der jährlich 140 000 Besucher besteigt ein Kreuzfahrtschiff und fährt die Küste ab, um hin und wieder in der Wildnis anzulegen. Zum Vergleich: Das benachbarte Island empfängt jedes Jahr zwei Millionen Reisende auf der Insel. Trotz steigenden Besucherzahlen ist Grönland immer noch eine Nischendestination in einer global boomenden Tourismusindustrie.

Doch dieses Jahr will Grönland näher an den Rest der Welt rücken.

Die Bestrebungen, den Tourismussektor auszubauen, sind Teil eines grösseren Plans: Die Grönländer wollen ihren ehemaligen Kolonisten Dänemark abschütteln. Zwar verwaltet sich das Land seit einigen Jahren autonom vom Königreich, doch die einheimischen Stimmen, die eine komplette Unabhängigkeit fordern, sind in den letzten Jahren immer lauter geworden. Die meisten von Grönlands 57 000 Einwohnern zählen sich zur ethnischen Gruppe der Inuit, die schon vor 4000 Jahren auf dieser grössten Insel der Erde siedelten. Sie leben bis heute auf einem schmalen Küstenstreifen, denn der Rest der Landmasse ist von einem Eisschild überzogen. Die längste asphaltierte Strasse ist 11 Kilometer lang und befindet sich in der Hauptstadt Nuuk. Darum sind die meisten Siedlungen des Landes ausschliesslich über Wasser, zu Luft oder auf Schneemobilen erreichbar.

Drei neue Flughäfen gebaut

Weil die eigenen Ressourcen bislang nicht ausreichen, um die stark auf Importe angewiesene Volkswirtschaft und die wichtigsten Infrastrukturen und Institutionen wie Polizei, Bildungswesen am Leben zu erhalten, hängt Grönlands Staatshaushalt am Tropf von Dänemark. Zwischen 400 und 600 Millionen Franken Zuschuss erhält das Land jedes Jahr. Die grönländische Wirtschaft ist wenig diversifiziert, 95 Prozent der Exporte sind aus der Fischerei. Was die Industrie anfällig macht für schwindende Erträge und Preisschwankungen.

Das alles erklärt, warum Grönland momentan mit aller Kraft versucht, mehr Touristen an den Polarkreis zu locken. Zahlreiche private Transportunternehmen und Reiseveranstalter investieren derzeit in die Insel. An den drei Standorten Ilulissat, Qaqortoq und Nuuk wurden neue, moderne Flughäfen errichtet. Sie sollen künftig mit Blindlandesystemen ausgestattet werden und damit bei fast jedem Wetter erreichbar sein. Dank verlängerten Pisten werden auch grosse Langstreckenflugzeuge landen können.

«Pro Stunde können neu bis zu 400 Passagiere abgefertigt werden», sagte Milan Vraa von der grönländischen Kalaallit Airports Group bei einer Baustellenbesichtigung in Nuuk. Sechs Millionen Kubikmeter Fels und Erde seien bewegt worden für die neue Landebahn und das Gebäude. Hier soll nicht nur bald ein Vielfaches an menschlicher Fracht starten und landen, sondern auch Fisch. Und zwar frisch gefangen. Bisher nämlich war die Haupteinnahmequelle Grönlands gefrorener Fisch, mit den neuen Kapazitäten in Nuuk kann nun auch frischer Fisch abgefertigt werden – und dessen Verkaufswert liegt immerhin achtmal so hoch.

Vor der Eröffnung des neuen Flughafens in Nuuk im letzten November trafen Flüge häufig verspätet ein – oder wurden ganz annulliert. Das hat mit den harschen Wetterbedingungen zu tun. Sie gelten als Haupthindernis für die touristische Entwicklung Grönlands. Typischerweise konnte die Hauptstadt von Grönland nur von Europa aus und nur mit einer Übernachtung in Kopenhagen oder Reykjavik per Flugzeug erreicht werden. Und auch dann passierte es praktisch wöchentlich, dass Flugzeuge nicht starten konnten, weil das schlechte Wetter am Zielort die Landung unmöglich machte. Gerade Nuuk ist berüchtigt für seinen zähen Nebel, der den Flugverkehr über Tage lahmlegt, weil der Flughafen bis vor kurzem nur auf Sicht angeflogen werden konnte.

Vor allem für die Kreuzfahrtpassagiere bringen die neuen Flughäfen Vorteile, Busse bringen sie vom Flughafengebäude gleich zum Hafen von Nuuk. Air Greenland wird neu zweimal täglich von Nuuk nach Kopenhagen fliegen. Damit wird Grönland aus Europa innerhalb vom selben Tag erreichbar sein. Ab Juni 2025 wird United Airlines ausserdem mit einer Boeing 737 Max zweimal pro Woche von Nuuk nach New York fliegen.

«Jeder sollte Grönland noch sehen, bevor das alles verschwindet», sagt der Tourist aus Indien.

Und das ist nur der Anfang, denn wenn auch der neue Flughafen in Ilulissat an der Westküste und der Flughafen Qaqortoq neu aufgehen, könnte dies die Passagier-Kapazitäten laut Schätzungen von grönländischen Tourismusunternehmern potenziell verzehnfachen.

Am Eisfjord in Ilulissat warnt ein Schild davor, zu nahe an den Klippen zu stehen. Bricht einer der grösseren Eisberge auseinander und stürzt ins Wasser, kann das bis zu 30 Meter hohe Flutwellen auslösen, die schon ganze Gruppen von Besuchern mit sich ins arktische Meer rissen. Menschen stehen hier eher der Natur im Weg. Die riesigen Eisflächen vor den Bergmassiven, die einsamen Felsküsten und der aufgewühlte Ozean mit seinen schwimmenden Eismassen – alles an dieser Landschaft erinnert an eine prähistorische Zeit, noch bevor die ersten Inuit auf der Suche nach Jagd- und Fischgründen die Insel entdeckten.

In dieser archaischen Landschaft sind Touristen eher ein Störfaktor, ein profaner Anblick in ihren bunten Outdoor-Jacken und Ohrenwärmern, die obendrein ihren Abfall liegen lassen und Moorheiden zertrampeln.

«Jeder sollte das noch sehen, bevor das alles verschwindet», sagt ein Mann, der in eine dicke Daunenjacke gehüllt neben dem Warnschild steht. Um den Hals hat er eine teure Pentax-Kamera gehängt. Die Frage, ob er Profi-Fotograf sei, freut ihn. Nein, er sei auf Hochzeitsreise und stamme aus der Nähe von Bangalore in Indien. In den letzten 24 Stunden habe er über 200 Bilder gemacht. Die letzten 50 hier am Eisfjord. Für jedes einzelne habe sich die 8000-Kilometer-Reise gelohnt, findet er.

«Doomsday Tourism» nennt die Branche es: Menschen besuchen Orte, die aufgrund von sich abzeichnenden Naturkatastrophen, den Folgen des Klimawandels oder menschlicher Eingriffe zu verschwinden drohen. Beispiele dafür sind das Great Barrier Reef in Australien oder der Regenwald des Amazonas. Grönland befindet sich sozusagen im Epizentrum des «Doomsday Tourism»: Zwischen 1992 und 2020 ist sein Eisschild wegen steigender Temperaturen abgeschmolzen und hat den globalen Meeresspiegel um 13,5 Millimeter angehoben. Ein vollständiges Abschmelzen des Eisschildes würde den globalen Meeresspiegel um über 7 Meter ansteigen lassen. Ausserdem verändert der verstärkte Zustrom von Süsswasser die ozeanische Zirkulation im Atlantik, was starke Auswirkungen auf das Klima in Nordeuropa hätte. Das sind nur zwei von vielen globalen Folgen, die von der Klimawissenschaft momentan diskutiert werden.

Auf einem ganz anderen Blatt steht, wie die unberührte Wildnis mit dem erhofften Besucherstrom zurechtkommen wird. Die Nachhaltigkeits-Frage wird in Grönland darum gerade stark diskutiert. «Die arktische Flora ist sehr empfindlich. Und wenn zu viele Menschen auf Permafrostböden gehen, kann das zur Abschmelzung beitragen», sagt die Tourismusforscherin Liz Cooper. Sie hat Branchenvertreter Grönlands systematisch befragt und dabei immer wieder gehört, dass man zwar in die Entwicklung investieren wolle, aber nicht um jeden Preis.

Bloss nicht wie Island werden!

«Mir ist aufgefallen, dass die meisten auf Island als Negativbeispiel verweisen», erzählt Cooper. Dort hat der Tourismus inzwischen die Fischerei als Haupteinnahmequelle abgelöst, doch die Besucher belasten zunehmend das empfindliche Ökosystem der Vulkanlandschaft, ausserdem hat die Insel ein Abfallproblem und überlastete Strassen. Vor allem die Kreuzfahrtschiff-Industrie wird als Übel gesehen. Sie umrunden Island, legen hin und wieder an und bringen viele Leute auf die Insel, die lokalen Unternehmen nichts bringen, weil sie zum Essen und Schlafen auf die Schiffe zurückkehren.

In Grönland ist die Schifffahrtsgesellschaft HX Hurtigruten Expeditions eine Kooperation mit Air Greenland eingegangen. In diesem Jahr sollen 7000 Passagiere direkt nach Nuuk fliegen, was ihnen die Einschiffung aus Reykjavik und damit ein paar Seetage spart.

HX sieht sich selbst als Nachhaltigkeitspionier im Bereich der Kreuzfahrt. Sie nennen ihre Schiffe allerdings nicht Kreuzfahrtschiffe, sondern Expeditionsschiffe. Mit 500 Personen befördern sie deutlich weniger Passagiere als etwa die «Icon of the Seas», ein Kreuzfahrtschiff, das vor allem im Pazifik unterwegs ist und bis zu 8000 Personen aufnehmen kann. HX ist ausserdem im Besitz neuer Hybrid-Schiffe, die ohne das umweltschädliche Schweröl auskommen.

Auf Touren an der Westküste Grönlands legt die Gesellschaft etwa in der Diskobucht an, und motorisierte Schlauchboote bringen die Passagiere in kleineren Gruppen an Land. Dort haben sie ein bis zwei Stunden Zeit, mit der Natur in Berührung zu kommen: umherwandern, fotografieren, sich am Sandstrand in die Sonne setzen. Einige entledigen sich sogar ihrer Kleider für einen «Polar Plunge» – einen Sprung in den Arktischen Ozean, dessen Spitzentemperatur im Sommer gerade einmal 2 Grad beträgt. Die Schiffscrew überwacht das Treiben und hält Stapel von weichen Badetüchern bereit.

Ganz frei bewegen dürfen sich die Gäste aber nicht. Ein kleiner Spähtrupp hat vor der offiziellen Anlandung einen engen Pfad ausgesteckt und mit roten Flaggen ein Sperrgebiet um den Bau einer Füchsin errichtet. Einige Crew-Mitglieder tragen Gewehre auf dem Rücken und stehen auf Anhöhen. Dass ein Eisbär die Szene betritt, kommt vor, ist aber im Sommer eher selten. Wahrscheinlicher ist, dass die Wachmänner und -frauen dazu da sind, die Menschen im Auge zu behalten, denn Wetter und Panorama laden zu Ausschweifungen ein, die unberührte Vegetation schnell in den Sumpf nach einem Open-Air-Konzert verwandeln können. Allerdings sind nur wenige der älteren Passagiere überhaupt in der Lage, für ein noch spektakuläres Selfie auf den nächsten Berg zu klettern.

Liz Cooper, die Nachhaltigkeitsexpertin, bleibt skeptisch. «Aus Untersuchungen, die normale Kreuzschifffahrten mit Expeditions-Schifffahrten verglichen haben, weiss man, dass die kleineren Expeditionsschiffe mehr Auswirkungen auf die Umwelt haben, denn sie landen häufiger an und ihre Passagiere betreten häufiger die Wildnis.»

Robbenfleisch essen ist ökologisch sinnvoll

Kann Tourismus in Grönland überhaupt nachhaltig sein? «Wenn man mit dem Segelboot anreist, ja», sagt Cooper scherzhaft. Die Wissenschafterin findet, dass die Komplexität der Thematik am Zeitgeist vorbeigeht. «Es existiert ja nicht nur die ökologische Nachhaltigkeit», sagt sie. Der Tourismus sei auch eine Chance für Grönland und seine Bewohner, die sich mehr finanzielle Autonomie und politische Unabhängigkeit von Dänemark wünschten.

Dennoch: Wer verantwortungsbewusst reisen wolle, sollte mehr Zeit als sonst in die Vorbereitung stecken und nicht jeden Rappen zweimal umdrehen. «Bezahlen Sie die Kompensation für Ihren CO2-Ausstoss – leisten Sie einen Effort und suchen Sie lokale Anbieter von Touren und Unterkünften und buchen Sie direkt dort.»

Einen persönlichen Tipp hat sie für vegetarische und vegane Reisende: In Grönland gelten andere Nachhaltigkeitsgesetze beim Essen. Ökologisch nachhaltig ist hier, Robbenfleisch, Walfisch und Rentier zu essen. Zutaten für Hafermilch-Cappuccino und Avocado-Toast werden über die Flughäfen Ilulissat, Qaqortoq oder Nuuk eingeflogen.

Diese Reportage wurde möglich durch die Unterstützung von HX Hurtigruten Expeditions.

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