Donnerstag, Februar 27

Der konservative Parteisoldat Christian Stocker und der populistische Sozialdemokrat Andreas Babler werden die erste Dreierkoalition in Wien anführen. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Kann das gut gehen?

Als Christian Stocker am 5. Januar zu den Krisensitzungen seiner Partei nach Wien fuhr, rechnete er nicht damit, selbst vor die Medien treten zu müssen. Er war deshalb leger gekleidet, denn es war Sonntag und Österreich ohnehin noch mitten in den Feiertagen. Als er einige Stunden später zum neuen ÖVP-Chef designiert wurde, musste ein Fahrer einen Anzug für Stocker holen. Die Beförderung kam so unverhofft, dass selbst seine Frau aus den Medien davon erfuhr. «Furchtbar», soll sie gesagt haben, als er anrief.

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Man kann die Reaktion nachvollziehen, denn die Konservativen standen an diesem Tag vor einem Scherbenhaufen. Zwei Tage zuvor platzten die Verhandlungen für eine Dreierkoalition mit den Sozialdemokraten und den Liberalen, keine 48 Stunden später auch die Gespräche mit der SPÖ allein. Der ÖVP-Chef und Bundeskanzler Karl Nehammer trat daraufhin zurück, weil er eine Regierung gemeinsam mit der Wahlsiegerin FPÖ ausgeschlossen hatte. Genau dies schien nun aber die einzig logische Folge.

Aus der Provinzpolitik an die EU-Gipfel

Diese 180-Grad-Wende zu erklären und Vizekanzler des FPÖ-Chefs Herbert Kickl zu werden, war keine besonders attraktive Aussicht. Reihenweise sagten deshalb prominentere Kandidaten für den Parteivorsitz ab. Christian Stocker, als Generalsekretär schon von seiner Funktion her oberster Diener der Partei, tat dies nicht. Am Nachmittag bedankte er sich im eleganten Dreiteiler und mit Krawatte für die Kür zum neuen «Obmann». Wäre er kein Mann, hätten ihn die Medien wohl als Trümmerfrau bezeichnet.

Ausgerechnet Christian Stocker, dessen höchstes Exekutivamt bisher dasjenige des Vizebürgermeisters von Wiener Neustadt war, wird nun zum 18. Bundeskanzler vereidigt werden. Er sei der unwahrscheinlichste Kanzler der Zweiten Republik, schreibt das Nachrichtenmagazin «Profil». Der klassische Parteifunktionär aus der 50 000-Einwohner-Stadt in der niederösterreichischen Provinz wird das Land künftig an EU-Gipfeln vertreten und da über die Geopolitik mitentscheiden.

Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil der 64-jährige Jurist eigentlich eher hatte kürzertreten wollen und in der damals noch von Nehammer angestrebten Dreierkoalition kein Amt angestrebt hat. Er wolle sich mehr seinen Hobbys widmen, hiess es, dem Saxofonspiel und dem Fliegenfischen. In den ersten Meldungen zu seiner Wahl an jenem chaotischen Januartag wurde er noch als «interimistischer» Parteichef bezeichnet. Doch die ÖVP stellte bald klar, Stocker sei keine Übergangslösung.

Dennoch kann man ihn ohne Häme als zufälligen Kanzler bezeichnen. Spitzenkandidat bei der Wahl im Herbst war Nehammer, und nach dessen Scheitern bei der Koalitionsbildung galt der FPÖ-Chef Kickl als schon fast sicherer künftiger Regierungschef. Auch in allfällige Neuwahlen wären die Konservativen wohl mit einem zugkräftigeren Kandidaten gezogen als mit dem nüchternen Stocker.

Dass es anders kam, lag eher an Kickl als am ÖVP-Chef. Stocker hatte zwar als Generalsekretär die Wahlkampfstrategie Nehammers, Kickl zu verteufeln, an vorderster Front mitgetragen. In den Monaten vor dem Urnengang verging kaum ein Tag, an dem er den FPÖ-Chef nicht scharf kritisierte. In den Verhandlungen war es aber Kickl, der mit seinen Forderungen die ÖVP teilweise bewusst provozierte. Das Misstrauen zwischen den beiden Parteien wurde spürbar, man blieb auch stets per Sie. Mitte Februar musste Kickl dem Bundespräsidenten sein Scheitern mitteilen.

Welchen Anteil Stocker daran hatte, dass Österreich der selbsternannte «Volkskanzler» erspart bleibt, ist unklar. Am Ende schienen es beide Parteien auf einen Abbruch anzulegen. In den Tagen zuvor rumorte es in der ÖVP, und als Partei-Urgestein wusste Stocker, was er den Konservativen zumuten kann und was nicht. Dass er dabei primär den eigenen Weg ins Kanzleramt im Blick hatte, ist nicht anzunehmen. Dafür ist Stocker zu uneitel.

Aufstieg eines linken Parteirebellen

Klar ist, dass allein schon die Verhandlungen mit der FPÖ die Glaubwürdigkeit des ÖVP-Chefs nach dessen Aussagen über Kickl schwer beschädigt haben. «Meine Reputation hat gelitten», räumte Stocker im Januar selbst ein. In einem wahren Interview-Marathon erklärte er seinen Meinungswechsel, den er aus Verantwortung für das Land vollzogen haben will.

Nun ist doch wieder alles anders, und Stocker bezeichnete Kickl nach dem Ende des gemeinsamen Versuchs wieder als Gefahr für Österreichs Sicherheit. Man kann ihm fehlendes Rückgrat vorwerfen und Opportunismus zum Erhalt der Macht. Oder man sieht in Stocker einen loyalen Diener seiner Partei, der stets das tut, was diese will oder er für das Beste für sie hält. Als Anwalt ist er gewohnt, für die jeweilige Position dann zu argumentieren, und das tut er schlüssig und fundiert.

Stocker ist deshalb ein Handwerker der Macht, die Strahlkraft eines Sebastian Kurz geht ihm völlig ab. Aber er ist im Gegensatz zu diesem auch kein Blender. Seine innerparteiliche Autorität hat er durch seine Ruhe, Sachlichkeit und Professionalität gewonnen, nicht durch die Fähigkeit, die Massen zu begeistern. Zudem verschafft ihm die tiefe Verankerung in Niederösterreich, dem wichtigsten Bundesland für die ÖVP, Gewicht. Schon Stockers Vater sass für die Partei im Parlament, und sein Sohn politisiert im Gemeinderat von Wiener Neustadt, wie er selbst über drei Jahrzehnte.

Es ist eine erstaunliche Gemeinsamkeit mit seinem künftigen Koalitionspartner, dem SPÖ-Chef Andreas Babler, dass auch dieser seine einzige Regierungserfahrung aus der niederösterreichischen Kommunalpolitik hat. Babler war dreissig Jahre lang in der Gemeinde Traiskirchen tätig, ab 2014 für zehn Jahre als Bürgermeister.

Gewählt wurde Babler jeweils mit über 70 Prozent der Stimmen, was vor allem für den Urnengang 2020 bemerkenswert war. Traiskirchen ist landesweit vor allem bekannt für das Asyl-Erstaufnahmezentrum, das ab 2015 Sinnbild wurde für die Überforderung Österreichs in der Flüchtlingskrise. Auf rund 20 000 Einwohner kamen damals bis zu 4000 Asylsuchende. Babler pochte dennoch stets auf eine Willkommenskultur und bewältigte die Herausforderung pragmatisch.

Das passte zu seinem Kurs am linken Rand der SPÖ, oft wurde er deswegen als Parteirebell bezeichnet. Als Sohn einer Arbeiterfamilie, gelernter Schlosser und einstiger Schichtarbeiter wurde er schon als junger Mann ein in der Wolle gefärbter Linker. In der Sozialistischen Jugend stieg er rasch auf und kritisierte mit klassenkämpferischen Tönen den langjährigen SPÖ-Bundeskanzler Werner Faymann oder seine Vorgängerin Pamela Rendi-Wagner. Noch vor zwei Jahren bezeichnete sich Babler in einem Interview als Marxisten, was er kurz darauf relativierte. In der EU sah er einst das «aggressivste aussenpolitisch militärische Bündnis, das es je gegeben hat». Inzwischen findet er diese Aussage «überzogen».

Wer entscheidet, «Bableristas» oder «Realos»?

Auch Babler wurde überraschend SPÖ-Chef und steigt wie Stocker eher zufällig an die Regierungsspitze auf. Der Linkspopulist avancierte 2023 zum Sprengkandidaten im Machtkampf zwischen Rendi-Wagner und dem burgenländischen Landeshauptmann Hans Peter Doskozil vom rechten Parteiflügel. Er gewann die Ausmarchung und rückte die Sozialdemokraten nach links – unterstützt von treuen Anhängern, die selbst intern als «Sekte» verschrien sind. An der Wahlurne zahlte sich der Kurs nicht aus: Die Partei stürzte mit 21 Prozent der Stimmen erstmals auf den dritten Platz ab.

Fast hätte Babler so auch das Amt des Vizekanzlers verspielt: Für breite Kreise der ÖVP ist er ohnehin schwer akzeptabel. Der erste Anlauf für das Dreierbündnis, das nun doch noch zustande gekommen ist, scheiterte dann laut Konservativen und Liberalen an Bablers erratischer Verhandlungsführung und seiner Forderung, Reiche stärker zu besteuern. Nun hat ihn der «Realo-Flügel» um die mächtige Wiener Landespartei und die Gewerkschaften an die kürzere Leine genommen, was doch noch eine Einigung ermöglichte.

Wer wirklich das Sagen hat in der SPÖ – die «Bableristas» oder die «Realos» –, wird ein entscheidender Faktor für den Erfolg der neuen Koalition. Ein anderer ist, ob den beiden Kommunalpolitikern der Schritt auf die grosse Bühne gelingt. Es ist eine Provinzialisierung der Regierungsspitze, quasi eine «Verbürgermeisterung» der Republik. Vielleicht ist das aber auch nur konsequent. Böse Zungen meinen, bei den «Ortskaisern» liege die wahre Macht des Landes.

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