Montag, November 10

Moskau rückt vor – primär dort, wo die Verteidiger nach Rückschlägen neue Befestigungen bauen müssen. Zwar hat Kiew für die Verteidigungslinien einen Plan. Doch die Armee plagen alte Probleme.

Wenn Russlands Kriegsmaschinerie tonnenschwere Bomben, Raketen und Artilleriegeschosse auf die Ukrainer niederregnen lässt, ist Schutz relativ. Für die Verteidiger blieb der Rückzug in den letzten Wochen oft der einzige Ausweg, vor allem im Donbass. Kiew wartet auf die neuen amerikanischen Waffenlieferungen und gräbt sich ein – mit dem widersprüchlichen Ziel, weder zu grosse Gebiete noch zu viele Menschenleben zu verlieren.

Ob es gelingt, die Front zu stabilisieren, hängt nicht nur von genügend Munition und Soldaten ab. Die Ukrainer befinden sich auch beim Bau von neuen Verteidigungsstellungen in einem Rennen gegen die Zeit. Sie haben dies lange vernachlässigt, weil sie andere Prioritäten hatten. Und weil sie letztes Jahr hofften, mit ihrer Gegenoffensive die russischen Linien zu durchbrechen. Eine Armee im Vormarsch, so schien es, braucht keine Verteidigung. Das war eine Fehlannahme, die das Land nun teuer bezahlt.

Fast 900 Millionen Franken für die Verteidigungslinien

Erst im vergangenen November reagierte die ukrainische Regierung. Sie verabschiedete einen zentralen Plan zur «strategischen Verteidigung». Umgerechnet 880 Millionen Franken budgetierte Kiew für den Bau von Anlagen über eine Länge von 2000 Kilometern. Präsident Selenski kündigte drei gestaffelte Linien an den wichtigsten Frontabschnitten an, mit Schützengräben, «Drachenzähnen» gegen Panzer, Minenfeldern und Bunkern für die Soldaten.

Die Ukrainer orientieren sich dabei an den russischen Verteidigungsanlagen der sogenannten Surowikin-Linie im besetzten Süden. Beide Armeen greifen letztlich auf die sowjetische Doktrin der «Tiefenverteidigung» zurück: So soll der Feind gegen mehrere, über ein Dutzend Kilometer hintereinander angeordnete Linien anrennen und so seine Kräfte erschöpfen. Die Russen wehrten die Gegenoffensive dadurch weitestgehend ab, den Ukrainern gelangen nur kleinere Gebietsgewinne an einzelnen Stellen.

Um diese befreiten Gebiete nicht wieder zu verlieren, bauen die Ukrainer ihre neuen Verteidigungsanlagen einerseits in den Regionen Cherson und Saporischja. Als verwundbar betrachten sie aber auch die Grenze zu Russland im Nordosten, in Sumi und in der Oblast Charkiw. Teile davon hatte die Ukraine 2022 zurückerobert, heute fürchtet sie, dass der Feind eine neue Grossoffensive auf die Metropole plant. Dazu kommt der besonders umkämpfte Donbass.

Dort, darin sind sich Beobachter einig, kann von einer einheitlichen Linie noch keine Rede sein. Die seit den grossen Kämpfen von 2014/15 bestehende ehemalige Grenze zum russisch besetzten Donbass hatten die Ukrainer zwar bis 2022 teilweise stark ausgebaut. So lagen Festungsstädte wie Kramatorsk oder Awdijiwka zehn Jahre lang in Frontnähe. Die Ukrainer versahen sie mit einem komplexen Netzwerk an Bunkern, Tunneln und Gräben, oft aus Beton und Stahl.

Die Verteidigungslinien sind improvisiert

Da mit Awdijiwka im Februar aber eine bedeutende Bastion der Verteidigungslinie fiel, müssen die Ukrainer westlich davon nun hektisch neue Verteidigungslinien ausheben. Vergangene Woche fiel mit Otscheretine eine Ortschaft, die den russischen Vormarsch eigentlich stark hätte verlangsamen sollen.

Durch sie verlief eine wichtige Verteidigungslinie, die bereits vor dem Fall Awdijiwkas vorbereitet worden war. Doch wirklich ausgebaut wurde sie erst in den letzten Wochen, während des hastigen Rückzugs. Auf einem Satellitenbild von Ende April, das Otscheretine zeigt, sind zahlreiche Schützengräben und Panzersperren sichtbar, die im Februar noch nicht existierten. Die grösstenteils aus Holz gebauten Stellungen boten aber zu wenig Schutz gegen feindliche Flächenbombardements. Dazu kam, dass die Russen im April eine Verzögerung bei der Rotation ukrainischer Einheiten an der Front zum Durchbruch ausnutzten.

Otscheretine

Die hervorgehobenen Strukturen zeigen neu errichtete Verteidigungsanlagen um Otscheretine

Solche Unzulänglichkeiten sind einerseits der Munitions- und Personalknappheit der Ukrainer geschuldet. Sie haben aber auch strukturelle Gründe. So verfügen die Verteidiger im Gegensatz zu den Russen über keine grösseren Pioniertruppen. Diese wurden nach dem Kollaps der Sowjetunion aufgelöst, weil der Verkauf ihrer Ausrüstung dem bankrotten Staat Einnahmen bescherte. 2005 gab es nur noch vier solche Regimenter. Seither wurden sie zwar wieder aufgebaut. Höhere Priorität erhielten sie aber erst in allerjüngster Vergangenheit.

Die Folge ist, dass sich die Frontsoldaten selbst um den Festungsbau kümmern müssen. Die erste Linie graben die jeweils für einen Abschnitt zuständigen Brigaden, die zweite die Pioniere. Gegenüber verschiedenen Medien klagen diese aber über mangelnde Koordination und Planung. Da jede Einheit primär für sich schaue, seien die Verteidigungsanlagen nicht genügend tief und ineinander verzahnt.

Gefährliche Kooperation von Militär und Privatfirmen

Der Bau der dritten Linie wird laut den Vorgaben aus Kiew zentral gesteuert. Dafür soll die Staatsagentur für Infrastrukturentwicklung mit privaten Unternehmern kooperieren, die für ihre Arbeit und den Einsatz ihrer Maschinen entschädigt werden. Firmen für diese gefährliche Aufgabe zu finden, ist schwierig. Im vergangenen Monat wurden im Gebiet Charkiw 4 Arbeiter getötet und 10 Maschinen zerstört.

Doch die Zurückhaltung gilt selbst für Städte weit weg von der Front. So fanden die Behörden in Pokrowsk 2023 über Monate kein Unternehmen, das bereit war, eine wichtige Brücke zu reparieren. Sie fürchteten, ihre Bagger könnten Ziel russischen Beschusses werden, obwohl die Stadt damals ausserhalb der Reichweite der Artillerie lag, und dass ihre Ansprüche im bürokratischen Sumpf untergehen würden.

Nach den jüngsten russischen Vorstössen könnte Pokrowsk laut Militärexperten in absehbarer Zeit zum Kampfgebiet werden. Der Bevölkerung blühte dann ein ähnlich brutales Schicksal wie jener von Tschasiw Jar, einer weiteren strategisch bedeutsamen Kleinstadt, welche die Russen gegenwärtig dem Erdboden gleichmachen. Das bedeutet Tod, Zerstörung und Vertreibung.

Aus einer rein militärischen Perspektive bleibt den Ukrainern aber kaum eine andere Wahl, als sich in Städten gegen einen überlegenen Gegner zu verteidigen. Zwar bieten einige Frontabschnitte natürliche Hindernisse wie Sümpfe und Flüsse, die sie entlasten. Doch auf offenem Feld können sie sich der feindlichen Feuerwalze nur mit riesigen Verlusten entgegenstellen.

Städte sind Bastionen der Verteidiger

Doch auch die Möglichkeiten zur Verteidigung einer Stadt hängen von der Vorbereitung ab. So waren die Positionen im Umland von Tschasiw Jar ungenügend ausgebaut, was den Russen ermöglichte, bis an den Ortsrand vorzurücken. Dort stehen ihnen bis jetzt nur die erhöhte Position der Stadt und ein Kanal im Weg.

In Pokrowsk haben die Verteidiger besser vorgesorgt und in den letzten eineinhalb Jahren zwei Ringe um die Stadt gebaut. Der innere ist auf Satellitenbildern gut sichtbar. Ebenfalls erkennbar sind zahlreiche neue Schützengräben, im Norden und im Westen der Stadt und an Kreuzungen.

Die weiss umrandeten Strukturen zeigen seit September 2022 errichtete neue Anlagen, grösstenteils um den inneren Verteidigungsring gruppiert.

Die Voraussetzungen für die Verteidigung sind durch die industrielle Basis besser. Pokrowsk beherbergt die wichtigste ukrainische Mine zur Produktion von Kokskohle. Deren Besitzer Metinvest produziert auch Stahl. Seit Kriegsbeginn ist der Konzern in den Bau der Verteidigungsanlagen involviert. Beton, Stahl und Maschinen sind vorhanden.

Solche Möglichkeiten stehen jedoch nicht an jedem Abschnitt einer 1000 Kilometer langen Front zur Verfügung, und sie sind kein Ersatz für systematisch erstellte Verteidigungsanlagen. Wann diese fertiggestellt werden können, konnte der Gouverneur der Region Charkiw Ende März nicht sagen. Die Ukrainer hoffen, dass sie an den entscheidenden Punkten solide genug sind für die nächste russische Offensive.

Exit mobile version