Dienstag, Oktober 15

Die neuste Analyse im Auftrag des Bundes lässt mutmassen, dass die CO2-Abgabe viel zu tief ist. Die Schätzungen zu den Klimakosten hängen indes entscheidend von den Annahmen ab.

Das Timing war unangenehm für den Verkehrs- und Umweltminister Albert Rösti. Just zu Beginn der heissen Phase im Abstimmungskampf um den Ausbau von Nationalstrassen legte der Bund die neuste externe Studie der Beratungsbüros Infras und Ecoplan zu den gesellschaftlichen Kosten des Verkehrs vor. Der Kernbefund: Diese Kosten sind deutlich höher als bisher angenommen.

Gemeint sind damit jene Kosten, die der Verursacher nicht selber trägt – zum Beispiel Luftverschmutzung, Lärm, Unfälle und Klimakosten. Gemäss den neuen Schätzungen beliefen sich diese externen Kosten für das Jahr 2021 beim Strassenverkehr auf knapp 22 Milliarden Franken; die frühere Schätzung deutete auf jährliche Kosten von etwas über 13 Milliarden Franken.

Gemäss der Studie sind gut drei Viertel des Anstiegs auf die Erhöhung der geschätzten Klimakosten des CO2-Ausstosses zurückzuführen – bezogen auf den Verkehr selbst sowie auf indirekte Einflüsse wie die Herstellung von Fahrzeugen, die Gewinnung von Treibstoffen und den Strassenunterhalt. Der Rest der Differenz betrifft mehrheitlich die Erhöhung der geschätzten Gesundheitskosten durch Luftverschmutzung.

Einfluss auf Klimapolitik

Laut Bundesrat Rösti haben die neuen Schätzungen keinen direkten Einfluss auf die Abstimmungsvorlage zu den Nationalstrassen. In der Kosten-Nutzen-Analyse, die der Bundesrat 2023 präsentiert hatte, fielen die Klimakosten kaum ins Gewicht. Der Bund geht laut Rösti davon aus, dass die Ausbauprojekte nicht zu bedeutendem Mehrverkehr führen, sondern die Staukosten senken. Zudem wären die geplanten Projekte erst Ende der 2030er Jahre fertig, und bis dann seien viel mehr klimaschonende E-Autos auf den Strassen. Laut früheren Annahmen des Bundes dürften um 2040 etwa die Hälfte der Autos auf den Schweizer Strassen E-Autos sein.

Dennoch sind die neuen Kostenschätzungen pikant – vor allem im Hinblick auf die Klimapolitik. Und dies nicht nur für die leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe. Vor allem lassen die neuen Schätzungen mutmassen, dass die CO2-Abgabe in der Schweiz viel zu tief ist.

Laut der Studie deutet die zentrale Schätzung auf Klimakosten für 2021 von 430 Franken pro Tonne CO2-Ausstoss; bisher galt ein Wert von rund 140 Franken. Laut den Autoren ist die neue Marke als konservativ zu betrachten, denn mangels belastbarer Daten seien nicht alle Klimakosten erfasst.

430 versus 120 Franken

Die Schweizer CO2-Abgabe auf Heizöl und anderen fossilen Brennstoffen beträgt zurzeit «nur» 120 Franken pro Tonne. Und der Verkehr ist gar nicht erfasst. Man könnte argumentieren, dass der nicht zweckgebundene Teil der Mineralölsteuer auf Benzin und Diesel in der Wirkung einer verkappten CO2-Abgabe nahekommt, obwohl das nicht die Motivation für die Steuer war.

Der in die allgemeine Bundeskasse fliessende Teil der Mineralölsteuer macht einschliesslich Mehrwertsteuer (die auf der gesamten Mineralölsteuer anfällt) umgerechnet etwa 100 Franken pro Tonne CO2 aus. Das liegt nahe bei der geltenden CO2-Abgabe auf Brennstoffen, aber weit weg von der neuen Schätzung zu den Klimakosten des CO2-Ausstosses.

Die 120 Franken für die geltende CO2-Abgabe sind das Ergebnis eines politischen Prozesses. Das Volk hatte 2021 eine Gesetzesrevision abgelehnt, die unter anderem eine Erhöhung der maximalen CO2-Abgabe auf 210 Franken vorsah. Doch wer die Lasten der Klimakosten den Verursachern aufhalsen will, müsste nun für eine Verdrei- oder Vervierfachung der CO2-Abgabe sein. Sofern man die neue Kostenschätzung für plausibel hält.

Funkstille der Experten

Die Studienautoren von Infras und Ecoplan scheinen zunächst einen Maulkorb erhalten zu haben. Selbst bei rein technischen Rückfragen wurde man letzte Woche wie auch diesen Montag auf die Medienstelle des Bundesamtes für Raumentwicklung verwiesen – auf Anweisung des Bundes, wie es hiess.

Die Schätzung von Klimakosten ist keine exakte Wissenschaft. Die Klimafolgen sind komplex, nicht linear und oft erst langfristig sichtbar. Für die Schätzergebnisse sind Methodik und Annahmen von zentraler Bedeutung.

Eine erste Grundsatzfrage: Schätzt man die Schadenkosten einer zusätzlichen Tonne CO2-Ausstoss oder die Kosten zur Vermeidung einer zusätzlichen Tonne? Beide Methoden sind gängig. Die Schätzung des Schadens ist stärker zielgerichtet, doch manche Forscher hielten Schätzungen über die Vermeidungskosten für etwas weniger wacklig.

Die neue Schweizer Studie beruht im Unterschied zu ihren Vorgängern auf Schätzungen der Schadenkosten. Die deklarierten Gründe: Dies sei methodisch richtig, weil der Auftrag die Schätzung externer Kosten verlangte, Schadensschätzungen seien nicht wackliger als Analysen von Vermeidungskosten, und als Basis für die neue Schweizer Schätzung diene ein international anerkanntes Modell, das auch von Behörden in den USA und in Deutschland verwendet werde.

Das Gewicht der Zukunft

Bedeutend ist auch die Zeitachse: Ist ein Schaden für künftige Generationen gleich schlimm wie ein gleich grosser Schaden für uns heute? Die Studienautoren unterstellen eine «Zeitpräferenzrate» von 1 Prozent pro Jahr. Das heisst, ein Schaden von 100 Franken in einem Jahr wiegt gleich schwer wie ein Schaden von etwa 99 Franken heute. Und ein Schaden von 100 Franken in fünfzig Jahren wiegt gleich schwer wie ein Schaden heute von rund 60 Franken.

Ohne Werturteile geht es nicht. Der Einfluss auf die Ergebnisse ist gross. Würde man künftige Generationen genau gleich gewichten wie die heutigen, ergäben sich laut der Schweizer Studie bei sonst gleichen Annahmen Klimakosten von 1370 Franken pro Tonne CO2-Ausstoss statt von 430 Franken.

Zudem berücksichtigt die Studie, dass künftige Generationen vermutlich reicher sein werden als die heutigen. Laut einem gängigen Ansatz werden deshalb künftige Schäden etwa im Umfang des erwarteten Wachstums des Pro-Kopf-Einkommens auf den heutigen Barwert heruntergerechnet.

Die Armen leiden mehr

Ein weiteres zentrales Werturteil: Gewichtet man einen Schaden von 100 Franken in ärmeren Ländern gleich stark wie einen gleich grossen Schaden in reicheren Ländern? Für eine Einkommensgewichtung spricht unter anderem, dass ein Schaden der Ärmeren für die Betroffenen als wesentlich schlimmer empfunden wird als ein gleich grosser Schaden für Reichere – da der Nutzen eines zusätzlichen Frankens mit zunehmendem Einkommen sinkt. Gegen eine Einkommensgewichtung spricht unter anderem, dass aus Effizienzsicht die Klimapolitik von der Ungleichheitsfrage zu trennen ist und direkte Entschädigungen von Reich zu Arm der bessere Weg wären.

Der Einfluss dieses Faktors auf die Kostenschätzungen ist gross, weil die Klimakosten oft in ärmeren Regionen überdurchschnittlich hoch sind. Das deutsche Umweltbundesamt spricht sich für eine Einkommensgewichtung aus, während die amerikanische Umweltagentur laut ihrer neusten Analyse von 2023 auf eine solche Gewichtung verzichtet. Die neue zentrale Schweizer Schätzung von 430 Franken pro Tonne CO2 beruht auf einer Einkommensgewichtung; ohne eine solche Gewichtung würde bei sonst gleichen Annahmen die Kostenschätzung «nur» 130 Franken pro Tonne CO2 betragen.

«Wir müssen das noch einordnen», sagte Bundesrat Rösti zu den neuen Schweizer Zahlen. Man werde die Studie intern überprüfen und danach Schlussfolgerungen ziehen. Mit der zentralen Kostenschätzung von 430 Franken pro Tonne CO2 liegt die Schweizer Analyse im internationalen Vergleich ziemlich hoch. Diesen September zeigte ein Überblick zur internationalen Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte eine mittlere Kostenschätzung von rund 200 US-Dollar. Auffällig war indes ein Trend zu höheren Schätzungen seit etwa 2010 – mit einem grossen Teil der Schätzungen in den letzten fünf Jahren zwischen 200 und 500 Dollar.

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