Während des Salone de Mobile fällt vor allem eins auf: Nebst bekannten Playern aus Architektur und Design mischen auch immer mehr Modemarken mit. Im Trend liegen ausserdem das geschriebene Wort, harziges Material und übergrosse Betten.
Zeigt sich die Welt draussen hektisch und laut, wächst das Bedürfnis nach einem Zuhause, das Ruhe ausstrahlt. Mit dieser einfachen Formel lassen sich viele der gezeigten Neuheiten am diesjährigen Salone del Mobile erklären, der grössten internationalen Möbelmesse, die einmal im Jahr in Mailand stattfindet. Gezeigt wurden überdimensionale Betten, die ganze Zimmer ausfüllten, Pausenorte für Teezeremonien und Räume, die selbst dann noch Wärme versprühen, wenn draussen ein heftiger Sturm tobt. Verbindende Themen waren in diesem Jahr: das Bedürfnis nach Rückzug, die Sehnsucht nach Geborgenheit und der Wunsch für Zusammenhalt.
Vorwärtsbewegung
Wie geht es weiter im Design? Wie verändern neue Technologien und klimatische Herausforderungen den kreativen Prozess? Diesen und weiteren Fragen widmete sich «Prada Frames», das vom Design- und Forschungsstudio Formafantasma kuratierte Symposium «In Transit». Statt um Produkte ging es hier um Ideen: um Design als kulturelle Praxis, als Forschung und als Mittel zum Nachdenken über gesellschaftliche Zusammenhänge. Die Vorträge, Lesungen und Diskussionsrunden fanden passend zum Thema im von Gio Ponti und Giulio Minoletti entworfenen Arlecchino-Zug der 1950er Jahre statt sowie im Padiglione Reale, dem historischen Gebäude am Mailänder Hauptbahnhof, das einst als Wartebereich für italienische Könige und Staatsoberhäupter diente.
Der Hochgeschwindigkeits-Elektrozug «Arlecchino» wurde 2020 von der Fondazione FS Italiane restauriert und ist seither wieder in Betrieb.
Harzige Angelegenheit
Gewiss spielte das schöne Wetter eine Rolle. Die Sonnenstrahlen verwandelten die bunten, halbtransparenten Möbelstücke und Objekte aus Harz in faszinierende Lichterspiele. Aber die Anziehungskraft, die das Material derzeit auf Designer und Konsumenten ausübt, lässt sich auch noch anders erklären: etwa mit seiner Vielseitigkeit. «Alles kann gesteuert werden, die Farbe, die Transluzenz, die Oberflächenbeschaffenheit sowie die Form, was Harz zu einem absolut skulpturalen Material macht», sagt Laurids Gallée, der mit seinem Designstudio in Rotterdam auf die Verwendung von Harz spezialisiert ist. In diesem Jahr zeigte er seine Objekte unter anderem in der Ausstellung «Gucci Bamboo», für die die italienische Modemarke Designschaffende beauftragte, das Material Bambus auf unterschiedliche Weise einzusetzen.
Auch schön: die Spiegel-Serie «The Tact & Trace» von Objects of Common Interest für Tacchini. Ihr Design mit den prismatischen Formen erinnert Eleni Petaloti, Co-Gründerin des New Yorker und Athener Designstudios, an die Kristallobjekte ihres Grossvaters.
Wie weit zurück das Handwerk mit Harz geht, zeigen die Objekte des Gestalters Gaetano Pesce, die das italienische Label Meritalia im Rahmen seiner Memphis-Ausstellung «Radical Everyday» gezeigt hat.
Guter Match
Jil Sander × Thonet
Als Modedesignerin ist Jil Sander seit einigen Jahren nicht mehr tätig, doch aufgehört, schöpferisch zu sein, hat sie deswegen nie: «Für mich gehört kreative Arbeit zu meinem Leben», sagt sie. Mit dem deutschen Möbelhersteller Thonet hinterlässt sie nun ihre Handschrift erstmals auch im Interior Design: Jil Sander hat den Bauhaus-Klassiker, den Freischwinger S 64 von Marcel Breuer aus den späten 1920er Jahren, neu gestaltet. Eine Designsprache, die ihrem eigenen minimalistischen Stil nahesteht: Die Ästhetik des Bauhauses in der Architektur, in den Objekten und in der Grafik sei in ihrer Jugend sehr präsent gewesen und habe sie tief beeinflusst, erzählt sie in einem Interview.
Mit den neuen Farben und den hochglanzlackierten Holzrahmen und -armlehnen haben die Stühle eine neue Frische erhalten, oder wie Jil Sander selbst sagt: «Die Signature-Kollektion wirkt, als hätten wir Breuers Freischwinger nur gründlich poliert. Man erkennt ihn trotz Überarbeitung sofort wieder.»
Dimorestudio × Loro Piana
Tiefrote Samtvorhänge, Teppich im Leopardenmuster, glänzende Messingapplikationen und zerschlagenes Geschirr: Das Mailänder Designbüro Dimorestudio weiss, wie man Aufmerksamkeit erzielt. Für die Inszenierung «La Prima Notte di Quiete» richtete das Team um Britt Moran und Emiliano Salci ein Refugium im Stil der achtziger Jahre ein, mit Möbelstücken, die Dimorestudio für Loro Piana Interiors entworfen hat. Die Show war Drama pur – und das Debüt der Luxusmodemarke am Salone del Mobile.
Atelier Oï × A-POC Able Issey Miyake
Wer Plisseestoff sieht, denkt sofort an den japanischen Modeschöpfer Issey Miyake. «A piece of cloth» lautete sein Grundprinzip – dieses hat das Neuenburger Architektur- und Designstudio Atelier Oï nun auf eine Leuchtenserie übertragen: Entstanden ist eine mehrteilige Serie aus Deckenlampen und portablen Tischleuchten, die allesamt aus Draht und «einem Stück Stoff» bestehen.
Faye Toogood
An ihr gab es – wieder einmal – kein Vorbeikommen: Das Gesicht von Faye Toogood prangte auf Werbeplakaten und Magazincovern, und ihre Entwürfe waren in ganz Mailand verteilt: Mit Tacchini präsentiert die britische Designerin ein Sofa und Beistelltische, die im neuen Showroom in Brera gezeigt werden. Und zusammen mit dem japanischen Keramikhersteller Noritake zeigte sie im Satellit-Standort Alcova eine Tablewear-Kollektion, die aus ihrem englischen Garten inspiriert ist. Faye Toogood gilt als Designikone, der Durchbruch gelang ihr 2018 mit dem Kunststoffsessel «Roly-Poly». Anfang 2025 wurde sie in Paris von der Maison & Objet zur Designerin des Jahres gekürt.
Lazy Susan
Das Konzept der Sharing Dishes, geteilter Speisen, hat sich auch hierzulande längst durchgesetzt. Aufgetischt werden Risotto, Filet und Spargeln auf Tellerchen und in Schälchen, damit jeder Gast am Tisch von allem probieren kann. Nachteil dieser neuen Tradition ist dieses ständige Herumgereiche! Doch, es gibt eine Lösung für das Problem: Sie heisst Lazy Susan und ist ein drehbares Tablett, das in der Mitte des Tisches platziert wird. Besonders schön ist es, wenn sie direkt in den Tisch integriert ist.
So etwa beim neuen Modell «Treflo», das der französische Künstler und Designer Ronan Bouroullec für die italienische Möbelmarke Cassina entworfen hat. Tischplatte und Tablett sind in derselben Farbe mit glänzender Lackoberfläche gehalten. Auch der Tisch «Enn» von Fumie Shibata für Flexform verfügt über eine drehbare Platte. Sie ist wie der kegelförmige Sockel mit Rindsleder überzogen. Im Japanischen steht der Ausdruck «Enn» für Verbindung und Harmonie. Das trifft sich ganz gut, ist doch genau das die Aufgabe der Lazy Susan.
Aufs Spiel fokussiert
Eine Box vermag die kindliche Neugier zu wecken – was befindet sich in ihr drin? Die Ausstellung der französischen Luxusmaison Hermès lud zu einer aufwendig inszenierten Entdeckungsreise ein, auf der die Gäste von einer Box zur nächsten wanderten; immer mit Erwartung und Spannung, was sich darin wohl verbirgt. Zum Beispiel die hauchdünne Cashmere-Decke «Points et Plans», die in Zusammenarbeit mit dem Künstler Amer Musa entstanden ist und an das Brettspiel Dame erinnert, manche sahen darin auch Twister.
Bettgeschichten
Der anhaltende Wunsch nach Geborgenheit, Rückzug und Komfort ist auch in den neuen Designkreationen noch gut sichtbar. Das rückt ein Möbelstück wieder besonders in den Fokus: das Bett. Längst ist es nicht mehr nur Ort zum Schlafen, sondern wird auch zum Arbeiten, Fernsehen, Lesen oder Essen genutzt. Wie gross es eigentlich sein sollte, um all diese Bedürfnisse optimal zu erfüllen, zeigte die Installation der Künstlerin Laila Gohar, die für Marimekko einen Raum mit einem übergrossen Bett ausstattete, das die Messebesucherinnen und -besucher dazu einlud, einmal kurz die Füsse hochzulegen, die Augen zu schliessen oder Zeitung zu lesen. Eine Pause vom Rummel von draussen.
Es geht um Cocooning, um die Vorstellung des Zuhauses als sicherer Zufluchtsort. Die neuen Bettmodelle, die am Salone del Mobile gezeigt wurden, muten entsprechend wie Wolken an. Sie sind üppig gepolstert, häufig mit weissem Bouclé-Stoff bezogen und sehen aus, als wäre ein Sofa um die Matratze drapiert worden. Oder aber sie sind konzipiert wie Räume, mit stützenden Wänden und Ablageflächen für alles Mögliche, was man in diesem Safe Space mittlerweile eben so braucht.
Das geschriebene Wort
Die Verlockung ist derzeit gross, sich in Schwärmereien an die guten alten Zeiten zu verlieren. So war auch in Mailand eine gewisse Nostalgie spürbar, die sich in der Hingabe zum Gedruckten manifestierte. Die Installation «Library of Light» der britischen Künstlerin Es Devlin zeigte ein gigantisches Bücherregal mit einem Durchmesser von 18 Metern, das im Innenhof der Mailänder Kunstakademie Pinacoteca di Brera stand und sich in gemächlichem Tempo um die eigene Achse drehte. Über 3000 Bücher fanden darin Platz. Devlin sagt, sie habe Bibliotheken schon immer als stille, intensiv pulsierende Orte geschätzt, an denen Geist und Phantasie aufstiegen: «Diese kinetische Skulptur spiegelt die synaptischen Verbindungen, die Resonanzen und Assoziationen wider, die in den Köpfen einer temporären Gemeinschaft von Lesern entstehen.»
Zusammen lesen, das war auch das Thema bei der Modemarke Miu Miu. Bereits zum zweiten Mal kuratierte Miuccia Prada an der Mailänder Möbelmesse einen Literaturklub, besprochen wurden in diesem Jahr die Werke der Schriftstellerinnen Simone de Beauvoir und Fumiko Enchi. Ausserdem war die Wertschätzung des gedruckten Wortes auf Sesseln (bei Poltrona Frau, umgesetzt von Barnaba Fornasetti) und an den zahlreichen Kiosken zu sehen, die verschiedene Marken für sich eingenommen haben (darunter etwa die Hotelkette Belmond zusammen mit Airmail).
It’s Tea Time
Luxus vermag auch in der Langsamkeit zu finden sein. Innehalten, bei einer Tasse Tee, deren Zubereitung und Genuss als Ritual zelebriert werden. Natürlich verlangt dieses nach einem passenden Setting. Wie das aussehen könnte, fragte sich unter anderem der französische Designer Christophe Pillet. Seine Kollektion «Teahouse», die er für Ceccotti Collezioni entworfen hat, weist eine minimalistische Ästhetik aus. Schrank und Sideboard sind aus dunklem Walnussholz gefertigt, alle Türen lassen sich schliessen – damit auch sicher nichts die Ruhe stört, die gesucht wird.
Ist es überhaupt noch möglich, ein so funktionales Möbelstück neu zu erfinden? Das Modelabel Loewe hat David Chipperfield, Patricia Urquiola, Naoto Fukasawa und 23 weitere Designerinnen, Künstler und Architektinnen gebeten, ihre Vision der Teekanne umzusetzen. Die Ergebnisse sind aus Porzellan, Glas, Leder oder Plüsch und beantworten die eingangs gestellte Frage mit einem deutlichen Ja – und auch mit Humor.
House of Switzerland
Zum dritten Mal in Folge treten Schweizer Designschaffende in Mailand vereint auf, dieses Mal gleich auch unter selbigem Motto: «Collaboration» lautete der Titel der diesjährigen Ausstellung im House of Switzerland. Die meisten der gezeigten Arbeiten sind im Team entstanden. Das Designduo Gini Moynier gestaltete die Räumlichkeiten in Anlehnung an ein Grossraumbüro der siebziger Jahre, statt Schreibtischarbeit standen neue Techniken (etwa bei Raphael Kadids von Hand eloxiertem Aluminium-Regal), Resilienz (Mudac Lausanne) und die Wiederentdeckung kunsthandwerklicher Traditionen (Homo Faber Fellowship) auf dem Programm.