Sonntag, Dezember 22

Die Schweizer Verhandlungsführer haben Zugeständnisse ausgehandelt, die vor drei Jahren noch unmöglich erschienen. Die Abkommen sichern der Schweiz eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Integration in Teile des EU-Binnenmarkts. Nun ist der Preis dafür bekannt.

Ist es die grosse Annäherung an eine von Etatismus und bürokratischem Übereifer gelähmte EU? Das Ende des liberalen schweizerischen Sonderwegs? Oder aber doch genau das Gegenteil: ein pragmatischer Kompromiss, der das erfolgreiche Geschäftsmodell der Schweiz und ihre Einbettung in Europa absichert und so verhindert, dass sie zu einer umfassenderen Annäherung gezwungen wird?

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Eingrenzung der Personenfreizügigkeit und Schutzklausel

Seit diesem Freitag sind die Details bekannt, auf die sich die Verhandlungsführer geeinigt haben und die vom Bundesrat für gut befunden wurden. Dazu ist zuerst einmal festzuhalten: Es ist bemerkenswert, was nur drei Jahre nach dem einseitigen Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU herausgekommen ist. Neue Chefunterhändler haben sich auf ein nun sektoriell getrenntes Vertragspaket geeinigt, das den Wünschen der Schweiz in allen Punkten substanziell entgegenkommt, die vor drei Jahren zu einem Abbruch der Verhandlungen geführt hatten.

Konkret beschränken sich die neuen Abkommen darauf, die ersten bilateralen Verträge in den fünf Bereichen technische Handelshemmnisse, Personenfreizügigkeit, Agrargüter, Landverkehr und Luftverkehr funktionsfähig zu halten. Dazu kommen neu ein Stromabkommen, ein Gesundheitsabkommen und eine Übereinkunft zur Lebensmittelsicherheit. Es geht also nicht um einen Beitritt zur EU, sondern um partielle Marktzugangsabkommen. Auch gibt es keine Absichtserklärung mehr, das Freihandelsabkommen zu modernisieren und zu dynamisieren. Das Ganze wird von beiden Seiten als ein Paket verstanden, aber ohne allgemeine Guillotineklausel. Das eröffnet die Möglichkeit, über die Dynamisierung der alten Abkommen und über die Umsetzung der drei neuen Abkommen getrennt abstimmen zu lassen.

Statt der Unionsbürgerrichtlinie sorgen nun zahlreiche Bestimmungen dafür, dass die Personenfreizügigkeit im Kern auf Arbeitskräfte beschränkt bleibt. Der hohe Lohnschutz wird für die Zukunft festgezurrt, und die EU akzeptiert die Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit für Entsandte auf 90 Tage im Jahr mitsamt dem flankierenden protektionistischen schweizerischen System, bei dem die einheimischen Sozialpartner die ausländische Konkurrenz beaufsichtigen. Die nun von den Gewerkschaften noch monierte Spesenregelung ist ein wirtschaftlich relativ irrelevanter Nebenschauplatz, der diesen dazu dient, innenpolitisch Druck aufrechtzuerhalten.

Das Vertragswerk anerkennt, dass die Personenfreizügigkeit nicht als Vorwand dienen darf, um in die schweizerischen Sozialwerke einzuwandern. Straffällige EU-Bürger können des Landes verwiesen werden. Zusätzlich erhält die Schweiz nun auch noch eine Schutzklausel. Bei schwerwiegenden und dauerhaften wirtschaftlichen Verwerfungen kann die Schweiz einseitig zeitlich begrenzte Schutzmassnahmen definieren, die bei Meinungsverschiedenheiten vom Schiedsgericht gutgeheissen werden müssen. In dringenden Fällen kann sie bereits vor einem Entscheid provisorische Massnahmen einführen. Die relativ vage Formulierung gibt Manövrierraum bei der Definition von Kriterien und deren örtlicher Anwendung. Aber die Klausel setzt die Personenfreizügigkeit nicht ausser Kraft; sie bietet begrenzten Schutz für besondere Situationen.

Fundamentale Kritiker der hohen Zuwanderung wird das nicht befriedigen. Sie werden viele Gründe finden, wieso die Übereinkunft nichts taugen soll. Ökonomisch ist dem entgegenzuhalten, dass die Zuwanderer aus der EU kommen, weil sie in der Pharmaindustrie, den Spitälern und Gaststätten dringend benötigt werden. Sie zahlen Steuern und nehmen den Schweizern nicht die Arbeitsplätze weg. Mit der fortschreitenden Alterung der Gesellschaft werden sie künftig erst recht gebraucht. Wichtig für den Wohlstand ist, dass die Zuwanderung im Kern auf Arbeitskräfte beschränkt bleibt. Verringert werden könnte sie am ehesten, wenn die Einheimischen mehr arbeiten oder wenn Arbeit (von In- und Ausländern) generell verteuert würde.

Und es gibt noch mehr Zugeständnisse: Die Kontrolle über die Umsetzung der Verträge bleibt in der Zuständigkeit der nationalen Behörden. Für die Kantone besonders wichtig: Die Binnenmarkt-Regeln, die es staatlichen Stellen verbieten, gezielt einzelne Unternehmen zu unterstützen, sollen nur beim grenzüberschreitenden Land- und Luftverkehr sowie im Stromabkommen zur Anwendung gelangen.

Geordnete Möglichkeit zum Opt-out

Geblieben ist, dass das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU auf bilateralem Weg geregelt und normalisiert werden soll. Der für die Wirtschaft zentrale gemeinsame Arbeitsmarkt mit seiner freien Migration gehört weiterhin dazu. Ebenso wie die Bedingung, dort, wo man mitmacht, die im EU-Binnenmarkt geltenden Wettbewerbsbedingungen jetzt und in Zukunft zu akzeptieren und sich im Konfliktfall einem Streitschlichtungsmechanismus zu beugen. Der Gast Schweiz soll die in der Liga geltenden Spielregeln übernehmen – Ausnahmen bestätigen die Regel. Dafür darf der Gast künftig bei geplanten Änderungen frühzeitig mitreden, aber nicht mitentscheiden.

Die Schweiz erhält Zeit, um über neue Regeln direktdemokratisch zu befinden, und anders als bei den Schengen-Verträgen erhält sie mit dem Schiedsgericht nun faktisch auch die Möglichkeit zum geordneten Opt-out, also etwas nicht zu machen. Das schützt vor willkürlichen Strafmassnahmen, erhält mit verhältnismässigen Gegenmassnahmen aber auch ein Preisschild. Und das Schiedsgericht darf zwar über alle in den Verträgen enthaltenen besonderen Übereinkünfte und über die Verhältnismässigkeit von Gegenmassnahmen eigenständig entscheiden, aber wenn es um grundsätzliche Fragen des EU-Rechts geht, behält der Europäische Gerichtshof konsequenterweise das letzte Wort.

Alles hat seinen Preis

Der Nutzen der neuen Verträge besteht darin, dass sie den Schweizer exportorientierten Firmen, aber auch den Erwerbstätigen, Studenten und Forschenden gleiche Rechte sichern wie allen anderen im EU-Binnenmarkt. Sie erhöhen die Versorgungssicherheit, sparen bürokratischen Aufwand und Kosten und sichern das Schweizer Geschäftsmodell ab. Denn die Schweiz ist so erfolgreich, weil viele Firmen mit dem Wirtschaftsraum der Nachbarländer und deren Lieferketten eng verflochten sind und sich die Wirtschaft darauf konzentrieren kann, der Welt sehr hochwertige Güter und Dienstleistungen anzubieten, die die höchsten Löhne sichern.

Was ohne eine Einigung mit der EU passiert, zeigt in Ansätzen die Unsicherheit der vergangenen Jahre: Grosse Firmen investieren mehr in der EU, internationale reduzieren ihre Investitionen in der Schweiz. Das schadet nicht den Firmen, aber dem Schweizer Standort. Und viele exportorientierte KMU kämpfen mit höheren Kosten und schwindenden Margen.

Alles hat seinen Preis, und der ist nun bekannt: In den von den Abkommen erfassten Bereichen wird es schwierig, weniger bürokratisch zu sein, als es der EU-Binnenmarkt vorgibt. Kommt man den Gewerkschaften mit erleichterten Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Gesamtarbeitsverträgen weiter entgegen, gefährdet das den flexiblen Arbeitsmarkt. Und was manche Vertreter der Binnenwirtschaft ärgert: Es dürfte künftig etwas schwerer fallen, sich protektionistisch vor ausländischem Wettbewerb zu schützen. Zudem kostet die Teilnahme am EU-Binnenmarkt ab 2030 einen jährlichen Beitrag von 350 Millionen Franken. Das ist weniger hoch als der Beitrag von Norwegen, das von der Wirtschaftsstruktur her wohl weniger profitiert.

Es geht ums grosse Ganze

Nichts ist alternativlos. Nicht vergessengehen sollte jedoch, dass auch jede Alternative ihren Preis hat. Ein Beitritt zum EWR oder gar zur EU wäre mit einer deutlich grösseren Integrationstiefe verbunden und nähme auf die Besonderheiten der Schweiz weniger Rücksicht. Ein modernisiertes Freihandelsabkommen könnte zwar Handelshemmnisse verringern, würde aber keine gleichberechtigte Partizipation bieten, wie die wenig inspirierenden Erfahrungen Grossbritanniens zeigen. Zudem müsste die Schweizer Landwirtschaft stärker geöffnet werden und würde die EU ebenfalls auf Streitbeilegung pochen.

Nichtstun schliesslich würde nicht den Status quo erhalten, sondern in eine Art unfreundliche Scheidung münden, die den bilateralen Weg durch relative Abschottung ersetzen würde. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der weltweit der Protektionismus und die geopolitische Blockbildung zunehmen und in der auch die sicherheitspolitische Lage fragiler geworden ist.

Es braucht nun eine konstruktive Debatte, damit das Volk in Kenntnis aller Vor- und Nachteile entscheiden kann, ob es den bilateralen Weg weitergehen will. Dieser ist ein pragmatischer Kompromiss. Eine noch stärker massgeschneiderte Lösung als das nun vorgelegte Paket wird es nicht geben. Und der Preis eines aus zahlreichen Partikularinteressen resultierenden Neins wäre wohl tatsächlich derselbe wie einst beim Bankgeheimnis: Die Schweiz könnte sich nach einer Leidensphase zu einer stärkeren Integration zu schlechteren Bedingungen gezwungen sehen.

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