Sonntag, Oktober 6

2025 erhält unser Land zum ersten Mal in seiner Geschichte national erhobene Wachstumskurven für Kinder und Jugendliche. Damit lassen
sich Störungen schneller erkennen und Behandlungen verbessern.

Es hat lange gedauert, zu lange. Aber jetzt ist es endlich so weit: Die Schweiz erhält neue Wachstumskurven für Kinder und Jugendliche. 2025 wird die Fachgesellschaft Pädiatrie Schweiz die 2019 vom Pädiatrisch-Endokrinologischen Zentrum Zürich (PEZZ) publizierten Daten national zur Verfügung stellen. Ergänzt werden diese durch neue Daten aus der Romandie und dem Tessin. Damit wird die Schweiz zum ersten Mal in der Geschichte über eigene, national erhobene Wachstums- und Gewichtskurven verfügen.

Wachstumskurven sind wichtige Hilfsmittel, um die Entwicklung und die Gesundheit von Kindern zu beurteilen. Nach der Geburt werden deshalb Grösse, Gewicht und Kopfumfang regelmässig gemessen. Das Wachstum eines Kindes kann dann mit den Normwerten in der entsprechenden Altersgruppe verglichen werden. So erkennen Eltern, in welcher Perzentile ihr Kind wächst, ob es eher zu den Grossen oder zu den Kleinen gehört. Wächst ein Kind entlang der 30. Perzentile, bedeutet das, dass 30 Prozent der Gleichaltrigen kleiner und 70 Prozent grösser sind.

Zwischen dem 2. und dem 10. Geburtstag sollten Kinder immer etwa im gleichen Perzentilenkanal wachsen. Bewegt sich ein Kind plötzlich weg von diesem Pfad, kann dies auf Krankheiten hinweisen. Die dritte Perzentile ist hier entscheidend: Fällt ein Kind darunter, werden Ärzte aufmerksam.

Bei der Beurteilung solcher Grenzfälle spielt es eine Rolle, welche Normwerte zur Anwendung kommen. In der Schweiz dienten dafür bis 2011 die Wachstumskurven, die der Zürcher Kinderarzt Andrea Prader vom Kinderspital Zürich, basierend auf 274 zwischen 1954 und 1956 im Raum Zürich geborenen Mädchen und Knaben, erhoben hatte. Die Prader-Kurven erhielten damals weltweite Anerkennung. Inzwischen aber haben die meisten Länder Europas eigene nationale Wachstumskurven, insbesondere für das Alter zwischen 5 und 18 Jahren.

Die ominöse dritte Perzentile

2011 entschied die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie, inzwischen Pädiatrie Schweiz genannt, die Prader-Kurven durch internationale Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu ersetzen. Für die ersten fünf Lebensjahre werden seither Daten verwendet, die zwischen 1997 und 2003 in Brasilien, Ghana, Indien, Norwegen, Oman und den USA erfasst wurden. Für die Jahre 5 bis 18 verwendet man Messungen von amerikanischen Kindern aus den 1950er bis 1970er Jahren. Wirklich aktuell waren die 2011 eingeführten Kurven also nicht.

Ein Missstand, auf den Urs Eiholzer, Leiter des PEZZ und letzter Schüler von Andrea Prader, schon lange hinwies. Bereits 2016 kritisierte er in dieser Zeitung, dass die internationalen Kurven das Wachstum der Kinder in der Schweiz nur ungenügend abbildeten, da Kinder hierzulande deutlich grösser seien, als die WHO-Kurven vorgäben. In der Folge könnten Wachstumsstörungen versäumt oder sogar verpasst werden, so seine Befürchtung.

«Meist werden Kinderärzte erst hellhörig, wenn ein Kind unter die dritte Perzentile fällt», erklärt Eiholzer. Ab dem 4. Lebensjahr unterscheidet sich aber die dritte Perzentile der WHO-Kurve vom Wachstum der Kinder in der Schweiz um bis zu 4 Zentimeter. Es dauert also länger, bis man erkennt, dass ein Kind zu langsam wächst. «Es wird dann womöglich nicht mehr so gross, wie es geworden wäre, wenn die Störung früher entdeckt und mit den dafür vorgesehenen Therapien behandelt worden wäre», sagt er.

Das betrifft zum Beispiel Kinder mit Zöliakie. Zöliakie schwächt das Wachstum, die Kinder fallen von ihrer Kurve ab. Aber oft schauen Kinderärzte erst genau hin, wenn sie unter die dritte Perzentile fallen, und überweisen sie zur weiteren Abklärung zur Spezialistin. «Verwendet ein Kinderarzt die internationalen Kurven, reagiert er womöglich mit zwei oder drei Jahren Verspätung», sagt Eiholzer.

Bis zu einem Drittel der Kinder mit wachstumsbeeinträchtigender Krankheit werden mit den internationalen Kurven nicht oder zu spät diagnostiziert, befand eine dänische Studie. «Das Zeitfenster für Wachstum ist beschränkt. Was man zwischen einem Alter von 5 und 15 Jahren nicht löst, ist nicht mehr gutzumachen», sagt Chris Fritz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am PEZZ.

«Wir haben über die Jahre sicher Dutzende von Kindern gesehen, die 10, 15 oder sogar 20 Zentimeter Endgrösse verloren haben, weil die Ärzte das Problem zu spät erkannt haben», sagt Eiholzer. Neben der Zöliakie treten Wachstumsstörungen auch bei Kindern auf, die zu klein zur Welt kommen, sogenannten SGA-Kindern, oder bei Mädchen mit dem Turner-Syndrom. Bei dieser angeborenen Erkrankung fehlt eines der zwei X-Chromosomen ganz oder teilweise.

Probleme könne es aber auch am oberen Ende der Kurven geben, und zwar bei den Gewichtskurven, sagt Eiholzer. «Unter Verwendung der internationalen Kurven kommt es zu Überdiagnosen von Adipositas bei Schweizer Kindern.»

Warum hat es so lange gedauert?

Dass regional erhobene Daten besser sind als internationale, liegt auf der Hand. In Europa verlässt sich kaum noch ein Land auf die WHO-Daten für die 5- bis 18-jährigen Kinder. 2016 beschloss Urs Eiholzer, neue Daten für die Schweiz zu erheben. Innerhalb von zwei Jahren sammelte das PEZZ die Daten bei 30 000 Kindern im Alter zwischen 0 und 20 Jahren.

2019 folgte die Publikation der Ergebnisse im renommierten Journal «Annals of Human Biology». Sie zeigen etwa, dass die Schweizer in den letzten fünfzig Jahren nur einen Zentimeter grösser geworden sind, dass Kinder heute ein halbes Jahr früher in die Pubertät kommen und dass sie nicht wirklich dicker geworden sind. «Das Übergewicht bei Kindern ist fast ausschliesslich auf die Migration aus Südosteuropa zurückzuführen», sagt er. Daraus folge, dass die Präventionskampagnen viel gezielter auf die Risikogruppen ausgerichtet werden müssten.

Im Grunde hätte man die WHO-Kurven bereits 2019 mit denen des PEZZ ersetzen können. 2020 plädierte aber eine Expertengruppe von Pädiatrie Schweiz dafür, die seit 2011 in Anwendung befindlichen Wachstumskurven vorläufig weiterzuverwenden.

Pädiatrie Schweiz störte in erster Linie die fehlende Repräsentativität der PEZZ-Daten. Denn diese wurden vor allem in der Region Zürich und in der Zentral- und Ostschweiz erhoben. Aus Rekrutenuntersuchungen weiss man zwar, dass die Westschweizer und die Deutschschweizer praktisch gleich wachsen.

Doch der Einbezug aller Landesteile sei sehr wichtig, sagt Oskar Jenni, Leiter der Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich, der auch als Vertreter von Pädiatrie Schweiz spricht. «Bei der Frage, welche Kurven in der Schweiz zur Anwendung kommen sollen, muss man deshalb nicht nur wissenschaftliche, sondern auch politische Aspekte berücksichtigen. Es braucht die vollständige Akzeptanz durch alle Beteiligten in unserem mehrsprachigen Land.»

Regelmässiges Monitoring

Nach mehreren Jahren des Hin und Her haben sich Pädiatrie Schweiz und das PEZZ nun vertraglich geeinigt. Die Datenerhebung wird auf das Tessin und die Romandie ausgeweitet, und die zusätzlichen Daten sollen in die Wachstumskurven des PEZZ integriert werden. Dabei geht man methodisch genau gleich vor wie bei der Datensammlung für die Studie von 2019. Die Arbeit im Tessin ist bereits abgeschlossen, in der Westschweiz sollen die Daten bis Ende Jahr vorliegen und in die bereits bestehenden Datensätze eingefügt werden.

Verantwortlich für die Empfehlung von Wachstumskurven ist Pädiatrie Schweiz. «Die Veröffentlichung der neuen Kurven ist im Detail noch nicht geplant», sagt Oskar Jenni. Laut Vertrag sollen sie aber 2025 verfügbar sein. Sollten die Daten aus der Westschweiz bis Ende 2024 nicht vorliegen, treten die Wachstumskurven von Eiholzer aus dem Jahr 2019 automatisch und unverändert in Kraft.

Die neuen Wachstumskurven sollen dafür sorgen, Überdiagnosen und Unterdiagnosen möglichst zu verhindern und das Kindeswohl zu sichern. Sicher ist, dass die Schweiz nie mehr so günstig zu neuen Wachstumskurven kommen wird. Denn diese wurden zum Grossteil vom privat finanzierten PEZZ gestemmt. «Wir anerkennen den grossen Effort, den das PEZZ in den letzten Jahren in die Datensammlung gesteckt hat», sagt Jenni. «Wir sind froh. Denn diese Arbeit ist nicht trivial, sie ist teuer und aufwendig.»

Für die Zukunft will das offizielle Organ der Pädiater die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. «Wir wollen nach Einführung der neuen Kurven nicht jahrzehntelang untätig bleiben», sagt Jenni. Mit einem regelmässigen Monitoring der Kurven werde man schneller erkennen, was es brauche, um die Gesundheit der Kinder bestmöglich zu unterstützen. «Die Digitalisierung wird uns dabei in die Hand spielen, so dass man die Wachstumskurven einfacher aufdatieren kann», so Jenni.

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