Mittwoch, Oktober 30

Der Bund behauptet, der Kapitalbezug aus der zweiten und dritten Säule diene als Steuerschlupfloch. Er begibt sich damit aufs Glatteis.

Die Ankündigung des Bundesrats hat wie ein Blitz eingeschlagen. Um den Haushalt zu sanieren, will er die Kapitalbezüge aus der zweiten und dritten Säule höher besteuern. Obschon die Massnahme noch nicht in Kraft ist und vom Parlament bewilligt werden muss, sind die Sparer verunsichert: Ist es künftig noch sinnvoll, sich in die Pensionskasse einzukaufen und in die Säule 3a zu investieren?

Der Bund argumentiert, er wolle ein Steuerschlupfloch schliessen. Haushalte mit «hohen Einkommen» würden die Vorsorge «für Steueroptimierungen nutzen». Deshalb müsse man den Steuersatz auf dem Kapitalbezug so stark erhöhen, dass die Belastung gleich hoch ausfällt, wie wenn man das Geld als Rente bezieht.

Im Vergleich zu heute würde dies einen radikalen Wechsel bedeuten: Bisher ist die Steuer lediglich von der Höhe des bezogenen Alterskapitals abhängig. Wobei in den meisten Kantonen progressive Steuersätze zur Anwendung kommen: Je grösser die ausbezahlte Summe, desto höher ist der Tarif des Fiskus.

Gemäss dem neuen Modell jedoch spielt künftig auch das Einkommen eine Rolle. Personen mit höheren Einkommen sollen für den gleichen Kapitalbezug ein Vielfaches an Steuern bezahlen. Der Bund erhofft sich davon zusätzliche Einnahmen von 220 Millionen Franken im Jahr.

Geänderte Spielregeln

Ein solcher Systemwechsel stellt die Rechtssicherheit infrage: Wer sein Erspartes in die zweite oder dritte Säule eingezahlt hat, muss sich darauf verlassen können, dass der Staat die vereinbarten Spielregeln einhält und nicht plötzlich wieder abändert. Entsprechend gross ist der Vertrauensverlust, den der bundesrätliche Angriff auf den Kapitalbezug bereits ausgelöst hat.

Damit nicht genug: Offenbar hat der Plan des Bundes auch inhaltliche Mängel. Wie eine Analyse des VZ Vermögenszentrums im Auftrag der NZZ festhält, lässt das Modell einen zentralen Faktor der Steuerbelastung ausser acht: den Umwandlungssatz (UWS) der Pensionskasse. Dieser legt fest, wie viel Rente der Versicherte aus dem von ihm gesparten Kapital erhält.

Das Gesetz schreibt für den obligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge einen UWS von 6,8 Prozent vor. Pro 100 000 Franken an Altersguthaben entspricht dies einer jährlichen Rente von 6800 Franken. In der Praxis allerdings verwenden die meisten Pensionskassen einen viel tieferen Satz von durchschnittlich 5,3 Prozent – was die Rente massiv schrumpfen lässt. Dafür verhindern diese Kassen eine Umverteilung von den Erwerbstätigen zu den Pensionierten.

Steuervorteil ist keineswegs garantiert

«Die bisherige Diskussion um den Kapitalbezug blendet die Bedeutung des Umwandlungssatzes gänzlich aus», sagt der VZ-Experte Karl Flubacher. «Je tiefer dieser Satz nämlich ist, desto weniger lohnt es sich aus steuerlicher Sicht, das Kapital zu beziehen. Oft fällt der Vorteil sogar ganz weg.» Zur Illustration hat das VZ Vermögenszentrum ein Beispiel erstellt. Dieses zeigt bewusst die Situation eines Gutverdieners, weil der Bund mit seinem Plan die angebliche Steueroptimierung der Wohlhabenden im Visier hat.

Wenn sich ein Alleinstehender in der Stadt Zürich ein Alterskapital von 800 000 Franken auszahlen lässt, so muss er dem Steueramt 80 000 Franken abliefern. Dafür profitiert er anschliessend von einer tieferen Steuerbelastung, weil er als Einkommen lediglich die AHV-Rente zu versteuern hat. Kumuliert muss er dem Fiskus bis zu seinem 85.  Altersjahr 160 000 Franken zahlen. Entscheidet er sich stattdessen für die Rentenlösung, so summiert sich seine Steuerrechnung auf deutlich höhere 260 000 Franken.

Nun kommt der entscheidende Punkt: Diese Kalkulation basiert auf einem UWS von 6,8 Prozent, der heute kaum noch zur Anwendung kommt. Rechnet man dagegen mit den in der Praxis vorherrschenden deutlich tieferen Umwandlungssätzen, so schrumpft der Steuervorteil des Kapitalbezugs massiv. Im Beispiel sind beide Varianten gleich teuer, wenn der UWS bei 4,5 Prozent liegt. Ein realistisches Szenario: Bei vielen grossen Kassen, etwa Migros, Coop oder SBB, liegt dieser Satz schon heute unter 5 Prozent.

Damit zeigt sich, auf welch wackligen Füssen das Konzept des Bundesrats steht: Stützt er sich bei der Zusatzbesteuerung des Kapitalbezugs auf den gesetzlichen UWS von 6,8 Prozent, so unterstellt er den allermeisten Personen steuerliche Vorteile, die sie gar nicht haben. Fairerweise also müsste der Fiskus für jeden einzelnen Versicherten eine individuelle Modellrechnung erstellen, welche nebst dem Einkommen den effektiven Umwandlungssatz enthält – was in der Praxis enorm komplex wäre. Bei der vom Finanzdepartement eingesetzten Expertengruppe heisst es auf Anfrage lediglich, die konkrete Umsetzung sei noch offen.

Ohnehin hält Karl Flubacher die Behauptung für falsch, wer das Kapital beziehe, wolle damit primär Steuern umgehen. Wichtiger bei diesem Entscheid seien andere Faktoren wie die familiäre Situation oder die eigene Gesundheit: «Wer zum Beispiel befürchten muss, bald zu sterben, neigt eher zu einer Kapitalauszahlung. Wer umgekehrt eine jüngere Ehepartnerin absichern will, fährt mit der Rentenlösung besser.» Ebenso könne es vorkommen, dass jemand das Kapital beziehe, weil er seine Hypothek abzahlen müsse.

Zwangssparen in der zweiten Säule

Beratungen im Vorfeld der Pensionierung, namentlich zu Steuerfragen, gehören zum Kerngeschäft des Vermögenszentrums. Der VZ-Experte bestätigt, dass die Kapitalbezüge über die letzten Jahre konstant zugenommen haben. «Dieser Trend hängt vor allem mit den sinkenden Umwandlungssätzen zusammen: Wenn die Rente schrumpft, steigt der Anreiz, das Alterskapital eigenständig zu investieren.» Dennoch bleibt der Anstieg der bezogenen Beträge überschaubar: In den letzten sieben Jahren erhöhte sich die Summe im Schnitt von 85 000 auf 114 000 Franken.

Das Finanzdepartement argumentiert indes nicht nur mit den Steuern, sondern ebenso mit «sozialpolitisch unerwünschten Resultaten»: Wer das Alterskapital beziehe, könne dieses zu rasch verzehren und sei danach auf staatliche Ergänzungsleistungen angewiesen. Auch diese Begründung wirkt fadenscheinig: Dass solche Missbräuche gehäuft auftreten, ist nirgends dokumentiert. Bereits vor einigen Jahren wollte der Bund mit derselben Erklärung den Kapitalbezug einschränken, was scheiterte.

Schon damals galt: Die Versicherten mögen es nicht, wenn der Bund ihre Handlungsfreiheit in der zweiten Säule einschränkt. Aus gutem Grund: Bei der beruflichen Vorsorge handelt es sich um ein staatlich verordnetes Zwangssparen. Wird dieses mit zusätzlichen Schikanen belastet, verliert es rasch den Goodwill der Bevölkerung.

Exit mobile version