Montag, Oktober 7

Die Personenfreizügigkeit dominiert die Verhandlungen mit der EU. Die Idee einer Schutzklausel hat Auftrieb. Doch wie würde das genau funktionieren? Und welche anderen Themen sind für die Zuwanderung noch wichtiger?

Mittlerweile sollte die Botschaft auch in Brüssel angekommen sein: Politisch ist die Zuwanderung für die Schweiz ein ernsthaftes Problem. Wenn die EU bei der Personenfreizügigkeit keine relevanten Konzessionen macht, ist zu befürchten, dass die Verhandlungen über die Zukunft des bilateralen Wegs im Nichts enden, dass das Vertragspaket hierzulande spätestens an der Urne scheitert.

Das wollen beide Seiten verhindern, zurzeit sind hüben und drüben positive Töne zu hören. Doch der Druck nimmt zu. Besonders brisant ist die Frage einer Schutzklausel, mit der die Schweiz bei starker Zuwanderung die Freizügigkeit limitieren könnte. Mitte-Präsident Gerhard Pfister hat dieser Idee vor kurzem in einem Interview mit der NZZ neuen Schwung gegeben. Klar ist, dass eine solche Klausel die Chancen des Pakets in der Schweiz deutlich erhöhen würde. Auch der Bundesrat steht hinter dem Ansatz. Und sogar der FDP-Nationalrat und Unternehmer Simon Michel, einer der gewichtigsten Fürsprecher einer Einigung mit der EU, hat sich gegenüber dem «Nebelspalter» dafür ausgesprochen.

Doch die Sache ist vertrackt. Schutzklauseln gibt es in vielen Varianten, nicht alle verstehen darunter dasselbe. Im Hintergrund sorgt die neue SVP-Initiative gegen die Personenfreizügigkeit für Komplikationen. Und vor allem wird gern verdrängt, dass andere Fragen die künftige Zuwanderung aus der EU stärker beeinflussen dürften. Ein Überblick:

Wie präsentiert sich die Zuwanderung in die Schweiz im europäischen Vergleich?

Die Statistik ist Berns beste Verbündete im Kampf um die Klausel. In den vergangenen zehn Jahren ist die Bevölkerung hierzulande deutlich stärker gewachsen als in der EU. Zwar ist die Situation nicht ganz so einzigartig, wie manche meinen: Neben Kleinstaaten wie Malta und Luxemburg sind auch Irland und Schweden stärker gewachsen als die Schweiz. Das ändert aber nichts am grossen Bild: Im EU-Durchschnitt betrug das Wachstum 1,4 und in der Schweiz 9,7 Prozent. Die Nachbarn liegen zwischen 7,7 Prozent in Österreich und minus 1,2 Prozent in Italien.

Der grosse Zustrom in die Schweiz, der 2023 einen neuen Rekord erreichte, hat auch demografische Gründe. Die Pensionierungswelle der «Babyboomer» entzieht der Wirtschaft zurzeit zahlreiche Arbeitskräfte. Ein Drittel des Bevölkerungswachstums seit dem Jahr 2000 entfällt auf die Gruppe «Ü 65». Weil die folgenden Generationen kleiner sind, dient ein Teil der Zuwanderung schon nur dazu, die Lücken zu schliessen.

Was kann eine Schutzklausel bewirken? Und was nicht?

Egal, welche Variante umgesetzt wird, eines steht fest: Die Klausel kann die Zuwanderung im Rahmen der Freizügigkeit immer nur temporär reduzieren – und zwar erst dann, wenn es eigentlich schon zu spät ist, wenn der Andrang ein unerwünschtes Ausmass erreicht hat. Sie funktioniert wie eine Notbremse: nachträglich und befristet.

Auch die denkbaren Massnahmen zur Eindämmung der Freizügigkeit sind in allen Varianten ähnlich: Die Palette reicht von einem echten Inländervorrang am Arbeitsmarkt bis zu Kontingenten und Höchstzahlen, allenfalls differenziert nach Regionen und Branchen.

Einvernehmlich oder einseitig – was sind die Unterschiede?

Im Idealfall einigen sich die Diplomaten in den Verhandlungen auf eine Schutzklausel, die für die EU nicht zu weit geht und für die Schweiz weit genug. Sie könnte direkt im Abkommen über die Freizügigkeit (FZA) verankert werden, das ohnehin revidiert werden muss. Es umfasst im Prinzip bereits heute eine Schutzklausel, doch die ist derart abstrakt formuliert, dass sie als nutzlos gilt: Bern und Brüssel müssten einvernehmlich entscheiden, wann Massnahmen nötig sind und wie diese aussehen. Das ist kaum realistisch.

Die heutige Schutzklausel im Wortlaut

Artikel 14.2 des Abkommens über die Freizügigkeit: «Bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen tritt der Gemischte Ausschuss auf Verlangen einer Vertragspartei zusammen, um geeignete Abhilfemassnahmen zu prüfen. Der Gemischte Ausschuss kann innerhalb von 60 Tagen nach dem Antrag über die zu ergreifenden Massnahmen beschliessen. Diese Frist kann der Gemischte Ausschuss verlängern. Diese Massnahmen sind in Umfang und Dauer auf das zur Abhilfe erforderliche Mindestmass zu beschränken. Es sind solche Massnahmen zu wählen, die das Funktionieren dieses Abkommens so wenig wie möglich beeinträchtigen.»

Der Bundesrat möchte in den Verhandlungen konkret definieren, unter welchen Voraussetzungen die Schweiz die Freizügigkeit einschränken darf, ohne dass die EU dies verhindern kann.

Wenn das nicht gelingt, kann die Schweiz eine Schutzklausel einseitig einführen, ohne Absprache mit der EU. In diese Richtung denkt Mitte-Präsident Pfister, der die Klausel als Gegenvorschlag zur SVP-Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz» sieht. In diesem Fall würde die Schweiz in ihrer Verfassung festschreiben, dass sie unter gewissen Umständen die Zuwanderung auch aus der EU begrenzen kann. Dies allein wäre laut früheren Einschätzungen des Bundesrats noch kein Verstoss gegen das FZA. Dazu käme es erst, wenn die Schweiz die Freizügigkeit tatsächlich konkret einschränken sollte. Allerdings dürfte schon der erste Schritt neue, schwierige Gespräche mit der EU auslösen. Komplizierend kommt hinzu, dass diese Entscheide sich zeitlich mit der Debatte über das Vertragspaket überlagern würden.

Wie wird die Klausel konstruiert: absolut oder relativ, mit oder ohne Automatismus?

Egal ob einvernehmlich oder einseitig: Die Klausel dürfte kaum absolute Obergrenzen à la «10-Millionen-Schweiz» umfassen, sondern relative Vorgaben. Sie könnte vorsehen, dass die Schweiz die Freizügigkeit begrenzen darf, wenn die Zuwanderung gemessen am Durchschnitt der EU-Länder einen gewissen Schwellenwert übersteigt. In diese Richtung geht ein Vorschlag des früheren Staatssekretärs Michael Ambühl. Hier hängt vieles vom Schwellenwert ab: Je nach Höhe ist die Klausel für die EU untragbar oder aber zahnlos für die Schweiz.

Simpler gebaut waren frühere Schutzklauseln bei der Ausdehnung der Freizügigkeit. Im Fall von Kroatien etwa durfte die Schweiz Kontingente einführen, sobald die Zuwanderung aus dem Land mehr als 10 Prozent über dem Durchschnitt der drei vergangenen Jahre lag. Doch diese Klauseln waren befristet.

Noch etwas wäre zu klären: Soll die Schutzklausel automatisch Massnahmen auslösen? Oder reicht es, wenn sie dem Bundesrat oder den Kantonsregierungen mit einer Kann-Formulierung das Recht gibt, einzugreifen? Bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative stand 2016 die Idee einer einseitigen Klausel mit Automatismen im Raum, sonst aber gehen die Vorschläge in die andere Richtung. Bei einer einseitigen Klausel wäre dies folgenschwer: Der Bundesrat oder die zuständige Kantonsregierung müsste in eigener Kompetenz entscheiden, ob die Schweiz das FZA verletzen soll oder nicht.

Welche anderen Fragen rund um die Freizügigkeit sind wichtig?

Weil sich die Klausel nur als Notbremse eignet, ist entscheidend, wie sich die Freizügigkeit mit dem neuen Paket als Ganzes verändert. Die Fronten sind klar: Die EU will, dass die Schweiz die Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) übernimmt; die Schweiz will, dass das FZA weiterhin auf den Arbeitsmarkt fokussiert ist. Eine Einigung ist in Reichweite. Die EU bietet Ausnahmen und Garantien an, damit die Schweiz an ihren strengeren Regeln zur Ausschaffung Krimineller festhalten und die Zuwanderung in die Sozialhilfe verhindern kann. Doch auch die Schweiz muss Konzessionen machen, insbesondere erhielten neu alle EU-Bürger nach fünf Jahren Erwerbsarbeit ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht.

Interessant ist der Vergleich mit den EWR-Staaten. Diese mussten die UBRL ohne Ausnahmen übernehmen, verfügen aber über eine griffigere Schutzklausel. Bei «ernstlichen Schwierigkeiten» können sie auch ohne Segen der EU Massnahmen ergreifen. Das macht die Sache delikat. Dass die Schweiz eine ebenso scharfe Schutzklausel erhielte, ohne die gesamte UBRL zu übernehmen, wäre ein grosser – und wohl auch erstaunlicher – Erfolg.

Es bleibt spannend. Beide Seiten wollen die Verhandlungen noch dieses Jahr abschliessen. Die schwierigsten Fragen dürften sich die Diplomaten bis zuletzt aufsparen. Die Schutzklausel gehört dazu.

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