Mittwoch, Dezember 4

Seit fünf Monaten gilt in der Schweiz das neue Sexualstrafrecht. Ist der Kanton Zürich bereit für die Umsetzung? Im Kantonsparlament gehen die Meinungen auseinander.

Seit dem 1. Juli gilt im Schweizer Sexualstrafrecht das Prinzip «Nein heisst Nein». Seither ist jede sexuelle Handlung gegen den Willen des Opfers strafbar. Bisher war das anders. Strafbar war, wenn der Täter sein Opfer nötigte, also in irgendeiner Form Gewalt oder Druck ausübte. Neu genügt es, wenn das Opfer mit Worten, Gesten oder durch Erstarren zeigt, dass es mit den Handlungen nicht einverstanden ist.

Die Änderung wurde weitum begrüsst. Nun fragt sich, welche Folgen das neue Gesetz haben wird. Namentlich in den Kantonen, die für die Umsetzung verantwortlich sind.

Mandy Abou Shoak hat eine klare Prognose: «Wir erwarten einen Anstieg von Anzeigen.» Sie ist in der Frauenorganisation Brava zuständig für Bildung und Beratung. Und sie ist Zürcher SP-Kantonsrätin. Gemeinsam mit Mitstreiterinnen wollte sie von der Kantonspolizei und der Staatsanwaltschaft wissen, ob diese auf die neue Situation genügend vorbereitet seien. Sie stellte dem Regierungsrat mehrere Fragen. Am Montag gab es im Kantonsrat Antworten – und eine lebhafte Diskussion.

Mandy Abou Shoak verwies auf Zahlen aus dem vergangenen Jahr, als noch das alte Recht galt: 199 Vergewaltigungen hat die Zürcher Kantonspolizei in ihrer Kriminalstatistik registriert, dazu 134 sexuelle Nötigungen. Eine hohe Zahl – und dennoch nur die Spitze des Eisbergs, wie die SP-Frau ausführte. Viele Vergewaltigungen würden gar nicht angezeigt, Verurteilungen gebe es wegen der schwierigen Beweislage auch relativ wenige. «Unsere Hoffnung ist, dass sich das mit der neuen Rechtslage verbessert», sagte sie.

Auch Silvia Rigoni (Grüne) rechnet mit «mehr und neuen Fällen» für die Zürcher Behörden. Es brauche eine Anpassung der Zusammenarbeit der unterschiedlichen Ämter und eine Verbesserung der Abläufe. «Die Bevölkerung erwartet, dass neue Gesetze wirkungsvoll angewendet werden», sagte sie. Die Schulungen für das Justiz- und Polizeipersonal bezeichnete sie als «dünn».

Zudem sei der Kanton in einem Bereich schlecht vorbereitet. Neu können Täter verpflichtet werden, an sogenannten Lernprogrammen teilzunehmen. Diese Programme sollen helfen, Rückfälle zu verhindern. «Da ist Zürich noch nicht bereit», kritisierte Rigoni.

Angie Romero (FDP) fügte einen weiteren Punkt an. Die Opferbefragungen und deren Protokollierung seien heute «ungenügend». Es gebe viele Unterbrechungen und Wiederholungen, was für die Opfer schwierig sei. «Hier erwarten wir klare Verbesserungen», sagte sie.

Mehr Arbeit für Polizei und Justiz

Stellung zu den Vorwürfen nahmen gleich zwei Regierungsratsmitglieder: die Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) und der Sicherheitsdirektor Mario Fehr (parteilos). Beide betonten, dass die Zürcher Regierung alles unternehme, um sexuelle Gewalt einzudämmen. Auf die neue Rechtslage sei man – anders als dies gewisse Kantonsrätinnen unterstellten – gut vorbereitet.

Bei der Kantonspolizei müssen beispielsweise alle Frontfunktionäre ein E-Learning absolvieren, das sich mit den geänderten Straftatbeständen anhand konkreter Fallbeispiele auseinandersetzt. Kaderleute werden vertieft geschult. «Wir hören nicht auf mit diesen Anstrengungen», sagte Mario Fehr. So habe man etwa mehr Geld für Opferberatungen und Frauenhäuser gesprochen. Das Problem könne man aber nicht nur den Behörden überlassen. Gewalt gegen Frauen sei ein gesamtgesellschaftliches Thema.

Jacqueline Fehr verwies auf spezielle Schulungen und Weiterbildungen in den Staatsanwaltschaften. Es gehe darum, die Kompetenzen für Einvernahmen und im Umgang mit traumatisierten Opfern zu schärfen. Man sei auch daran, die kritisierte langfädigen Befragungen und Protokollierungen zu verbessern. Generell erwartet die Regierung mehr Arbeit. Es sei von einem erhöhten «Bedarf an personellen Mitteln für Staatsanwaltschaft und Polizei» auszugehen.

Zu den Lernprogrammen für Täter meinte Fehr, diese seien bereit, sobald sie benötigt würden. «Noch gibt es gar keine Fälle, in denen sie angewendet werden könnten», sagte die Justizdirektorin. Noch gebe es keine Verurteilungen nach neuem Recht. Das wahre Problem ist laut Fehr ohnehin die tiefe Anzeigequote. «Diese Delikte sind heute quasi straffrei», sagte sie. Alles, was der Kanton tue, müsse dazu führen, dass es mehr Anzeigen gebe.

Zu lasche Umsetzung?

Die SVP-Kantonsrätin Anita Borer begrüsste es grundsätzlich, dass die Politik sich dem Thema stärker annimmt. Dennoch hatte sie Mühe mit der Diskussion am Montag: «Man schiesst eine Nebelpetarde, während es andernorts lichterloh brennt», sagte sie. Schon seit langem sei es möglich, Vergewaltiger vor Gericht hart zu bestrafen – mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren. Nur geschehe das viel zu selten. «Die Umsetzung ist zu lasch», kritisierte sie. Täter würden von den Staatsanwälten und Richtern mit Samthandschuhen angefasst.

Tatsächlich muss von den Vergewaltigern, die heute verurteilt werden, nur etwas mehr als die Hälfte ins Gefängnis. Die Freiheitsstrafen liegen im Schnitt bei 4,5 Jahren. Ein Missstand, findet die SVP und will nun in Bundesbern aktiv werden. Der Thurgauer SVP-Nationalrat Pascal Schmid plant noch in der laufenden Session einen Vorstoss, mit dem er härtere Strafen fordert, wie er gegenüber der NZZ sagt. So soll etwa das Mindeststrafmass für eine Vergewaltigung neu drei Jahre statt nur ein Jahr oder eine Geldstrafe betragen. Andere Staaten, etwa Spanien oder die USA, würden viel höhere Strafen für Sexualdelikte kennen.

Bis es allenfalls dazu kommt, gilt nun aber das jüngst aktualisierte Sexualstrafrecht. Die GLP-Kantonsrätin Andrea Gisler kündigte an, dass die zuständige Parlamentskommission bei der Umsetzung in Zürich ganz genau hinschauen werde. Falls es Probleme gebe, werde man «zu gegebener Zeit» nachhaken.

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