Samstag, Oktober 12

Das Gezerre um den deutschen Staatshaushalt nimmt kein Ende. Während die schlechtere Konjunkturlage höhere Schulden erlaubt, droht das Ausgabenwachstum die neuen EU-Fiskalregeln zu verletzen. Und der Finanzminister lässt eine Sitzung platzen.

Der liberale deutsche Finanzminister Christian Lindner tritt im Inland und in der EU gerne als Sparmeister auf, der Ausgabenwünschen und Schuldenträumen von sozialdemokratischen und grünen Koalitionspartnern sowie südeuropäischen EU-Mitgliedern Einhalt zu gebieten versucht. Und nun das: Am Donnerstag hat Lindner eine für Freitag geplante Sitzung des sogenannten Stabilitätsrats, eines Gremiums zur Finanzplanung, kurzfristig verschoben. Ein Sprecher des Finanzministeriums begründete das am Freitag auf Anfrage damit, dass es «noch technischen Abstimmungsbedarf mit der EU-Kommission gibt». Die nächste Sitzung des Stabilitätsrats werde voraussichtlich im Verlaufe des nächsten Monats stattfinden.

Neue EU-Fiskalregeln

In der Tat geht es im Detail um sehr technische Fragen. Doch diese sind politisch nicht ohne Brisanz. Dies zumindest legen eine Pressemitteilung und eine ausserordentliche Stellungnahme nahe, die der Beirat, ein unabhängiges Expertengremium zur Beratung des Stabilitätsrats, am Freitagnachmittag veröffentlicht hat.

Der Stabilitätsrat, in dem neben Lindner die Finanzminister aller Bundesländer sitzen, soll unter anderem die Einhaltung der für Deutschland geltenden europäischen Vorgaben zur Haushaltsdisziplin überwachen. Nun ist im Frühjahr eine Reform des EU-Stabilitätspakts in Kraft getreten – und es zeigt sich, dass die neuen Regeln möglicherweise von Deutschland grössere Sparsamkeit einfordern als bisher geplant. Und dass es nicht mehr ausreicht, «nur» die nationale Schuldenbremse einzuhalten, die Grenzen für die Neuverschuldung (jährliches Staatsdefizit) setzt.

Ein Kernpunkt der neuen EU-Regeln sind Obergrenzen für die gesamtstaatlichen Ausgaben. Jeder Mitgliedstaat soll mittelfristig eine solide Position der Staatsfinanzen erreichen, indem er über eine mehrjährige Planperiode passende Obergrenzen für das Wachstum der gesamtstaatlichen Nettoausgaben einhält (Ausgabenpfad). Ziel ist es, die Einhaltung der Maastricht-Kriterien zu erreichen, namentlich auch eine Rückführung der Staatsschulden auf maximal 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). 2023 lag diese Schuldenquote mit 63,6 Prozent des BIP auch in Deutschland über dem Referenzwert.

Bis Mitte Oktober hätten alle Mitgliedstaaten entsprechende Vorschläge einreichen sollen, was Berlin nun verfehlen wird. Die Staaten konnten dabei entweder einen für jedes Land ausgearbeiteten Referenzpfad der EU-Kommission übernehmen oder einen eigenen Anpassungspfad mit Ausgabenobergrenzen erstellen.

Berliner Sprungschanze

Laut dem Beirat beziehen sich die neuen EU-Vorgaben zwar primär auf die Jahre ab 2025, doch sei auch schon die Ausgabenentwicklung im laufenden Jahr relevant. Und hier liegt der Hase im Pfeffer: «Auf Basis der aktuellen Haushaltsplanungen könnte die Ausgabenentwicklung in Deutschland im Jahr 2024 tatsächlich oberhalb des Werts im Referenzpfad der Kommission liegen», schreibt der vom Ökonomen Thiess Büttner präsidierte Beirat.

Er erklärt es mit einer Metapher: Mit einem erhöhten Ausgabenniveau im Jahr 2024 würde quasi eine «Sprungschanze» gebaut: Ausgaben und Schulden würden dann im gesamten Anpassungszeitraum auf einem überhöhten Niveau «fliegen», selbst wenn der Pfad ab 2025 eingehalten würde. Die sich abzeichnende Verfehlung im laufenden Jahr müsse transparent gemacht und in den Folgejahren berücksichtigt werden, fordert der Beirat.

Trifft seine Einschätzung zu, wird Lindner kaum um Korrekturen herumkommen. Er hat in den Verhandlungen über die neuen EU-Regeln stets für einen relativ strikten Kurs gekämpft. Deshalb wäre es für die Glaubwürdigkeit und die Einhaltung der neuen Vorgaben ein Desaster, sollte sie ausgerechnet Deutschland schon bei der ersten Anwendung missachten.

Noch mehr Schulden

Die neuen EU-Regeln sind indessen nicht die einzige offene Baustelle für den deutschen Finanzminister. Vielmehr muss er die Planungen für den Haushaltsentwurf 2025, der derzeit im Bundestag beraten wird, auch an die schlechtere Konjunkturlage anpassen. Laut der am Mittwoch vorgestellten Herbstprognose der deutschen Regierung dürfte das BIP im laufenden Jahr um 0,2 Prozent schrumpfen statt wie im Frühjahr angenommen um 0,3 Prozent wachsen.

Dies dürfte die Steuereinnahmen senken und die Sozialausgaben erhöhen. Zugleich aber erhöht sich die im Rahmen der Schuldenbremse zulässige Neuverschuldung, weil die sogenannte Konjunkturkomponente bei schlechter Konjunkturlage etwas mehr Kreditaufnahmen erlaubt. Laut einem Bericht des «Spiegels» will Lindner unter Nutzung dieses Spielraums die für 2025 geplante Neuverschuldung um 5,2 Milliarden Euro auf 56,5 Milliarden erhöhen und damit die konjunkturbedingten Mehrausgaben und Mindereinnahmen kompensieren.

Offizielle Zahlen dazu gibt es noch nicht. Sie sollen im Rahmen der in wenigen Wochen anstehenden «Steuerschätzung» folgen, bei der die einschlägigen Erwartungen aktualisiert werden.

Sie können dem Berliner Wirtschaftskorrespondenten René Höltschi auf den Plattformen X und Linkedin folgen.

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