Mittwoch, Oktober 9

Der heute 25-Jährige ist schon seit früher Jugend kriminell. Der Richter sagt, es sei nötig, ihm nun «einen Schuss vor den Bug zu geben».

Am 12. Juni des letzten Jahres, um 15 Uhr 30 nachmittags, wartete ein Mann mit einem Blumengesteck im Zürcher Hauptbahnhof arglos auf seine Freundin. Da kam ein ihm völlig unbekannter, heute 25-jähriger Schweizer vorbei und fingerte am Gesteck herum. Auf der Videoüberwachung ist zu sehen, wie der 25-Jährige nach einem kurzen verbalen Austausch den Wartenden mit beiden Händen würgt, am Hals nach oben zieht und gegen eine Wand schleudert. Dann versetzt der kräftige Angreifer seinem Opfer mehrere Faustschläge ins Gesicht.

Der Mann mit dem Blumengesteck habe ihn «Hurensohn» genannt, rechtfertigt der auffallend gut gekleidete Beschuldigte vor Bezirksgericht Zürich sein aggressives Verhalten. Sein Auftreten im Gerichtssaal ist aussergewöhnlich selbstsicher, klar und bestimmt. Als Hobbys gibt er Krafttraining und Singen an.

Es ist nur einer von insgesamt neun Vorfällen, die ihm von der Staatsanwaltschaft I für Gewaltdelikte in der Anklageschrift vorgeworfen werden. Sie alle ereigneten sich im Zeitraum von nur zwei Wochen im Juni 2023: Am 28. Juni stach er einem Mann bei einer Schlägerei im HB ein Messer in den Rücken, was eine 20 Zentimeter lange Schnittwunde hinterliess.

Am 14. Juni raubte er einem alkoholisierten Mann, der im Lift 17 des HB schlief, das Mobiltelefon und Portemonnaie, verprügelte ihn und fügte ihm mit einer zerbrochenen Glasflasche einen Schnitt an der Hand zu.

Am 13. Juni wurde er von einem Passanten am Bahnhof Altstetten nach einer Zigarette gefragt. Als Reaktion hielt der Beschuldigte dem Mann einen Gegenstand an die Taille und raubte ihn aus. Am gleichen Tag belästigte er eine amerikanische Touristin in einem Restaurant im Kreis 1. Als sie ihm sagte, sie warte auf ihren Freund, soll er laut Anklage erklärt haben, er werde sie «ficken» und töten und ihrem Freund eine Kugel in den Kopf schiessen.

Auch Ladendiebstähle im Gesamtbetrag von 4000 Franken und die Demolierung eines WCs in einer Polizeizelle mit einem Schaden von rund 3000 Franken werden ihm vorgeworfen.

Hohe Rückfallgefahr für Gewaltdelikte

Der Staatsanwalt beantragt eine Freiheitsstrafe von 5,5 Jahren für alles, unter Einbezug von zu widerrufenden bedingt ausgesprochenen Vorstrafen. Hätte der Psychiater dem Beschuldigten für mehrere Taten nicht eine schwer verminderte Schuldfähigkeit attestiert, wären es sogar 8 Jahre gewesen, erklärt der Ankläger in seinem Plädoyer vor dem Zürcher Bezirksgericht. Zudem sei eine stationäre Massnahme nach Art. 60 StGB zur Suchtbehandlung anzuordnen.

Ein Gerichtspsychiater attestiert dem 25-Jährigen eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, den Missbrauch psychotroper Substanzen und eine hohe Rückfallgefahr für Gewaltdelikte. Der Mann ist grösstenteils in Kinderheimen aufgewachsen. Seine erste Vorstrafe handelte er sich im Alter von 15 Jahren ein. Der Gerichtsvorsitzende geht mit ihm im Gerichtssaal nicht weniger als 7 Vorstrafen durch, darunter auch mehrere Gewaltdelikte.

Zu den einzelnen neuen Vorwürfen ist er teilweise geständig, teilweise nicht, teilweise kann er sich nicht erinnern. Der Beschuldigte befindet sich bereits im vorzeitigen Massnahmevollzug. Dort gefalle es ihm aber nicht, und er sei nicht mehr bereit, eine Therapie zu absolvieren, erklärt er im Gerichtssaal. Er wolle jetzt einfach ins Gefängnis. –

Das wundere ihn überhaupt nicht, hält der Staatsanwalt fest, denn im geschlossenen Massnahmezentrum müsse sich der Beschuldigte einem engmaschigen Konzept unterordnen. Im Gefängnis könne er den «dicken Max spielen». Aufgrund seines Auftretens und seines Körperbaus befinde er sich «im Biotop des Gefängnisses nämlich am oberen Ende der Hackordnung».

Urteil als «Schuss vor den Bug»

Der Verteidiger plädiert auf eine Gefängnisstrafe von 26 Monaten und den Verzicht auf eine Massnahme. Der Messerstich sei in Notwehr erfolgt. Der Beschuldigte habe sich in einem Ausnahmezustand befunden, weil ihm zuvor selber eine abgebrochene Flasche über den Schädel gezogen worden war. Eine Therapie habe keinen Sinn, weil es dem Beschuldigten an der Motivation fehle.

Das Bezirksgericht sieht es anders: In seinem Urteil ordnet es diese Massnahme an. Nur so könne der hohen Rückfallgefahr begegnet werden. Der Beschuldigte müsse Strategien entwickeln, um Konflikte in Zukunft anders zu bewältigen. Die Richter verurteilen den Beschuldigten wegen versuchter schwerer Körperverletzung, mehrfachen Raubes, einfacher Körperverletzung und weiterer Delikte zu einer Freiheitsstrafe von 49 Monaten.

«Schon wegen der Kadenz und Anzahl der Delikte müssen wir ihm einen Schuss vor den Bug geben», sagt der Gerichtsvorsitzende. Im Fall des Messerangriffs in den Rücken handle es sich nicht um Notwehr. Einzig vom Vorwurf der Nötigung und Drohung gegenüber der amerikanischen Touristin wird er freigesprochen. Denn dort gibt es keine verwertbare Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft.

Urteil DG240092 vom 9. 10. 2024, noch nicht rechtskräftig.

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