Grossbritannien und die EU einigen sich auf ein Vertragspaket, das die Folgen des Brexits abfedern soll. Starmers Gegner sprechen von Betrug und Kapitulation.
In den vergangenen Jahren schien es, als habe Grossbritannien den Streit um den Brexit hinter sich gelassen. Eine Mehrheit der Bevölkerung erachtet den EU-Austritt im Rückblick als Fehler, verspürt aber keine Lust, die vergifteten Debatten wieder aufzuwärmen. Doch als der britische Premierminister Keir Starmer sowie die EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen und der EU-Rats-Präsident António Costa am Montag in London ein neues Vertragspaket besiegelten, kehrten die Geister aus der Vergangenheit unvermittelt zurück.
Wie früher hatten die Unterhändler bis zuletzt um Fangrechte für europäische Fischer in britischen Gewässern gefeilscht. Und wie in alten Zeiten witterte die Boulevardpresse einen «Brexit-Betrug», während Oppositionspolitiker aus den Reihen der Tories und von Reform UK sogar von einem «Kapitulationsvertrag» sprachen.
Geopolitisches Signal
Der Grund für die Aufregung ist eine Serie von Abkommen und Absichtserklärungen, mit denen Starmer unter dem Titel «Reset Brexit» die Folgen des harten EU-Austritts abfedern will. Starmer, von der Leyen und Costa zelebrierten den Neuanfang auch atmosphärisch. Nach dem Empfang im Lancaster House, das vor zweihundert Jahren für den späteren König George IV. erbaut worden war, lud der Premierminister seine Gäste auf den britischen U-Boot-Jäger HMS «Sutherland» ein. Dies sollte die Symbolkraft des neuen Verteidigungs- und Sicherheitspakts unterstreichen.
Von der Leyen sprach von einem historischen Moment: «In Zeiten geopolitischer Instabilität und neuer Bedrohungen stehen wir in Europa zusammen.» Angesichts der russischen Aggressionspolitik und der Unberechenbarkeit des amerikanischen Präsidenten Trump hat die EU ein Interesse an einer Kooperation mit der regionalen Militärmacht Grossbritannien.
Im Gegenzug hat London die Zusage dazu erhalten, dass die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der irregulären Migration intensiviert wird und dass sich britische Firmen an einer EU-Initiative zur Aufrüstung beteiligen können. Mit einem Fonds von 150 Milliarden Euro finanziert die EU-Kommission Investitionen der Mitgliedstaaten. Diese könnten nun mit den EU-Krediten teilweise auch bei britischen Firmen Waffen bestellen.
Praktische Verbesserungen
Starmer hofft, dass er der Bevölkerung den neuen Deal mit der EU dank günstigeren Preisen im Supermarkt und Erleichterungen im Alltag schmackhaft machen kann. «Wir blicken nach vorne und schliessen Abkommen ab, die im Interesse des Landes sind und mit gesundem Menschenverstand praktische Verbesserungen bringen», sagte der Premierminister. So sollen Briten künftig bei Reisen in die EU einfacher ihre Haustiere mitführen und vermehrt die E-Gates für elektronische Passkontrollen nutzen können. Dies würde die langen und bei britischen Touristen unbeliebten Wartezeiten an den Schaltern der europäischen Flughäfen verringern.
Wirtschaftlich bedeutsam wäre eine Rückkehr Grossbritanniens in den EU-Strommarkt, die man nun gemeinsam prüfen will. Überdies soll ein Landwirtschaftsabkommen zu günstigeren Importen führen, weshalb die britischen Grossverteiler die Einigung am Montag begrüssten. Gleichzeitig sollen britische Produzenten pflanzliche und tierische Produkte wie Würste oder Lammfleisch wieder ohne bürokratische Brexit-Zollformalitäten ins europäische Ausland und nach Nordirland exportieren können.
Im Gegenzug macht Grossbritannien politische Zugeständnisse: So übernimmt London EU-Regeln zur Nahrungsmittelsicherheit und verpflichtet sich, auch künftige Änderungen des EU-Rechts nachzuvollziehen. Zur Streitbeilegung ist ein Schiedsgericht vorgesehen, wobei die EU-Normen in letzter Konsequenz vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) ausgelegt werden. Der Mechanismus erinnert an die Streitbeilegung, die Bern und Brüssel in den neuen EU-Verträgen ausgehandelt haben.
Britische Konzessionen
Dass Grossbritannien künftig EU-Recht übernimmt, ohne in Brüssel mitzuentscheiden, ist für hartgesottene Brexiteers ein souveränitätspolitisches No-Go. Da aber nur landwirtschaftliche Produkte betroffen sind und da sich die britischen Regeln momentan kaum von jenen der EU unterscheiden, ist die praktische Tragweite begrenzt. Politisch noch heikler ist für Starmer daher eine andere Konzession: So erhalten europäische Fischer mindestens zwölf weitere Jahre lang Zugang zu britischen Fischgründen.
Die Rückerlangung der Souveränität über die britischen Meere war in der Brexit-Debatte symbolisch stets sehr wichtig gewesen. Die Fischer sprachen bereits von Verrat, als Premierminister Boris Johnson in den Verhandlungen mit Brüssel Ende 2020 einlenkte und EU-Fischern bis 2026 Zugang zu den britischen Gewässern zugestand. Nun wird dieses Provisorium bis 2038 verlängert, wobei britische Fischer im Gegenzug die Möglichkeit erhalten, ihre Fische und Meeresfrüchte auf dem europäischen Markt zu veräussern.
Weiter zeigt sich Starmers Labour-Regierung bereit, eine Vereinbarung für einen Jugendaustausch zu unterzeichnen. Noch haben sich Brüssel und London nicht auf die Details geeinigt: Doch soll das Programm unter 30-jährigen EU-Bürgern ermöglichen, zeitlich befristet in Grossbritannien zu arbeiten oder zu studieren. Starmer betonte, die Zahl der Jugendlichen werde ebenso begrenzt wie die Dauer des erlaubten Aufenthalts. Dennoch warnen die Tories und Reform UK bereits vor einer Rückkehr der verhassten EU-Personenfreizügigkeit.
Vorsichtige Strategie
Trotz der harschen Kritik der Opposition ist das Niveau von Starmers Brexit-Reset-Ambitionen nicht besonders hoch. Der Labour-Chef hatte bereits vor seiner Wahl im Sommer 2024 eine Rückkehr Grossbritanniens in den EU-Binnenmarkt mit der Personenfreizügigkeit ausgeschlossen. Auch die von den Liberaldemokraten geforderte Rückkehr in die Zollunion lehnt Starmer ab, da er sich die Möglichkeit erhalten will, wie jüngst mit Indien und den USA eigenständige Handelsverträge abzuschliessen.
Knapp ein Jahr nach Starmers Wahl zum Premierminister lahmt die britische Wirtschaft noch immer. Kurzfristig wird daran auch der EU-Reset nicht viel ändern, auch wenn die Regierung von einem Wachstumsschub von umgerechnet rund 10 Milliarden Franken bis 2040 spricht. Doch setzt Starmer darauf, dass sein vorsichtiger Deal die Brexit-Debatte nur kurzzeitig aufflammen lässt. Und er hofft, dass die Bürger bis zur nächsten Unterhauswahl zumindest einige praktische Erleichterungen spüren werden.